Freitag, 12. November 2010

Noctambule: Der Umzug

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Armand ließ sie vorsichtig los, trat einen Schritt zurück und griff nach einem bodenlangen Umhang mit Kapuze, den er ihr nun sanft umlegte.
"Wir ziehen um. Ein neuer Abschnitt beginnt und wir werden ihn in Marseille erleben." plauderte er dabei. "Ich habe dort ein Haus gekauft. Es liegt wunderbar ruhig am Stadtrand, ein wenig abgelegen, wie ich es liebe. Die ganzen Möbel sind schon unterwegs dorthin, fehlst nur noch du." Bei diesen Worten hob er sie lächelnd auf seine Arme.
"Und dich bringe ich lieber persönlich dorthin." Anya schlang einen Arm um seinen Nacken und erwiderte sein Lächeln mit leichter Irritation.
"Ich kann laufen!" protestierte sie leise. Er stimmte ihr mit einem Nicken zu, trug sie aber einfach weiter aus dem Haus hinaus. Auf der Straße wartete eine große vierspännige Kutsche. Auch sie war schwarz.
Auf der Tür prangte rot-goldenes Wappen mit einem geschwungenen, reich verzierten "S". Zwei Männer in Kutschermänteln und breitkrempigen Hüten warteten geduldig. Als sie Armand erblickten, wurden sie sofort geschäftig. Einer kletterte sofort auf den Kutschbock, der andere öffnete die Tür mit einer tiefen Verbeugung. Armand setzte die verblüffte Anya auf die weich gepolsterte Bank, die sie eher an ein gemütliches Sofa erinnerte.
Dann stieg er selbst ein, setzte sich neben sie und machte es sich sofort in seiner Ecke bequem. Die Tür wurde mit einem neugierigen, kurzen Blick des Kutschers auf Anya geschlossen. An der leicht schaukelnden Bewegung erkannte Anya, dass auch der zweite Mann auf den Kutschbock kletterte. Sie hörte ein Schnalzen, den kurzen Schlag einer Peitsche und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
Schnell nahm sie an Fahrt auf, bis die Pferde zu galoppieren begannen. In Höchsttempo ging es aus dem Pariser Vorort hinaus. Armand hatte keinen Blick zurück auf sein Haus geworfen. Entspannt lümmelte er in seiner Ecke und zog Anya zu sich heran.

Die Reise verlief reibungslos, dank Armands umsichtiger Planung. Seiner Anweisung gemäß stürmte das Gespann in hohem Tempo über die Landstraßen. Immer wieder gab es Pausen an Poststationen, wo die Pferde ausgetauscht wurden. Ansonsten gönnte Armand auch seinen Kutschern keine Pausen.
Sobald die Sonne aufging, zog Armand an den Fenstern dichte Rollos herunter und schloss die Vorhänge, um sich vor dem quälenden Licht zu schützen. Bei jeder Rast bei Tageslicht durfte Anya die Kutsche verlassen und die frische Luft genießen.
Auf sein Geheiß hin hielt die Kutsche grundsätzlich in schattigen Bereichen und Anya blieb in Sichtweite ihres Herrn. Sie wurde höchst zuvorkommend von jedem behandelt. Armands Kutscher hatten auch die Aufgaben der Diener übernommen.
Sie brachten ihr und Armand Getränke und kleine Speisen an die Kutsche und begleiteten Anya in die Gebäude, wenn sie sich frisch machen wollte. Als sie ihn fragte, ob er ihr so wenig vertraue, dass sie weiterhin überwacht würde, lachte er nur und beruhigte sie. Er war um ihre Sicherheit besorgt.
"Du weißt, ich würde dich jederzeit wieder finden. Ich wünsche lediglich, dass du dich sicher fühlst und gut behandelt wirst." erklärte er ihr gelassen.
In der Kutsche blieb es meistens dunkel. An ihn geschmiegt verbrachte sie die lange Fahrt mit Gesprächen und Schlaf. In der Dunkelheit lauschte sie seiner sinnlichen Stimme und erfuhr, dass er weit über 600 Jahre alt war. In dieser Zeit hatte er sich einen enormen Reichtum zugelegt, indem er die dunklen Wintermonate genutzt hatte, um Börsengeschäften in Lyon und später Paris nachzugehen.
Sein Wissen war erstaunlich, sein Interesse an Politik und Wirtschaft faszinierend. Anya hatte sich niemals mit diesen großen Themen beschäftigt. Und Armand genoss offensichtlich die Tatsache, in ihr einen Gesprächspartner gefunden zu haben, der interessierte Fragen stellte und lernbegierig war.
Doch vergaß er über all den Gesprächen nie, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, sie zu prüfend zu mustern und fürsorglich für stärkende Nahrung zu sorgen.
Anya empfand die Reise als anstrengend und aufregend. Bei diesem Reisetempo benötigten sie nicht mehr als 3 Tage und 2 Nächte, bis sie Marseille erreichten. Armand schob die Vorhänge beiseite und ließ Anya hinaus sehen. Mit leicht amüsiertem Blick beobachtete er wie sie mit fast kindlicher Freude die fremde Stadt und das rege Treiben am frühen Abend auf den Straßen betrachtete.

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