Samstag, 13. November 2010

Noctambule: Das neue Zuhause

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Er wies sie auf verschiedene Gebäude und Kirchen hin, deutete auf den Hafen, das Museum und die Oper. Alles sog Anya auf wie ein Schwamm. Noch nie in ihrem Leben war sie so weit gereist, dabei auch noch so komfortabel in einer Kutsche und schon gar nicht in eine andere Stadt.

Nun sah sie hier als erstes eine Menge Menschen, die in edlen Stoffen und mit gepuderten Haaren, die ganz Reichen sogar mit Perücken, auf den breiten Bürgersteigen flanierten, hin und wieder für eine kurze Unterhaltung stehen blieben oder sich in hübschen Cafés einen Platz suchten.
Die vierspännige Reisekutsche erregte natürlich Aufsehen. Immer wieder wurde auf das schwarze Gefährt gedeutet. Man kannte das Wappen nicht und schien zu überlegen, wer wohl gerade angekommen war.
Doch Armand hatte nicht die Absicht, irgendwo anzuhalten. Er betrachtete die Menschen hier unter ganz anderen Aspekten. Er bevorzugte Großstädte als Jagdrevier. Wie elegant und reich die Menschen hier waren, interessierte ihn nicht im Mindesten. Sie schmeckten dadurch nicht besser.
Sein Blick fiel zufrieden auf die staunende Frau neben ihm. Niemand hatte so ein köstliches Blut wie sie. Sofort blähte sich seine Nase wieder auf und er neigte den Kopf schnuppernd zu ihr. Sie bemerkte es gar nicht.

Mit staunenden Augen betrachtete sie nun das Haus, vor dem die Kutsche anhielt. Es war ganz im Stil des letzten Jahrhunderts gebaut worden. Verzierte Simse über und unter den Fenstern zierten die Front des zweistöckigen Gebäudes ebenso wie Säulen und verspielte Ornamente.
Eine breite, halbrunde Treppe führte zu der schweren Eingangstür hinauf, die ebenfalls von Säulen umrahmt war. Es war unmöglich zu schätzen, wie viele Zimmer das Haus wohl haben konnte, aber dass es nicht wenige waren, war offensichtlich.
Der Kutscher sprang von seinem Platz, öffnete die Tür und zog schwungvoll seinen Hut, während er gleichzeitig in eine Verbeugung sank. Armand stieg aus und reichte Anya die Hand. Sie musste ihren Rock raffen, um aussteigen und die Treppe hoch laufen zu können.
Mit erhobener Braue blieb Armand vor der Tür stehen, bis dem Kutscher einfiel, dass es wohl unter der Würde des edlen Herren war, selbst den schweren Türklopfer zu bewegen. Anya hörte es dumpf im Haus widerhallen.
Die Tür wurde von einem Butler geöffnet, was Anya sofort erneut in Erstaunen versetzte. Hier gab es Personal? Der Butler verbeugte sich.
"Willkommen, Monsieur. Mein Name ist Maurice." erklärte er förmlich mit ausdrucksloser Miene. Armand trat kommentarlos ein und atmete tief durch. Dann blickte er zu Anya herunter und lächelte.
"Dein neues Zuhause, kleine Anya." raunte er leise. Was auch immer er damit meinen mochte, sie spürte eine Gänsehaut. Sie hatte Paris verlassen, ohne überhaupt gefragt worden zu sein, ob sie das wollte. Und nun betrat sie weit fort von ihrem Elternhaus eine neue Heimat und ein neues Leben. Erneut schauderte sie. Leben… beinahe hatte sie es verloren.
Wie lange würde sie wohl noch leben? Wusste dieser Butler, wen er vor sich hatte? Oder war das selbst ein Vampir? Sie verwarf den letzten Gedanken wieder. Der Butler wirkte zu alt und Armand hatte ihr doch erklärt, dass Vampire nicht alterten, wenn sie nicht aus eigenem Wunsch heraus ihr Leben aufgegeben hatten.

Armand zeigt ihr das Haus mit gemischten Gefühlen. Zum einen hatte er zur eigenen Sicherheit den Standort sowieso wechseln müssen und es war für ihn nichts ungewöhnliches, große Strecken zurückzulegen. Zum anderen hatte er nun wieder in Anya einen Menschen in seinem Leben, für den er die Verantwortung übernommen hatte.
Sie sollte hier ein anderes, neues Leben beginnen. Der Begriff Leben hatte einen bitteren Beigeschmack für ihn. Um ein Haar hätte er es ihr genommen. Die vergangenen Tage hatte er viel darüber nachgedacht, wie er seine kleine Anya schützen konnte.
Aber er fand keine Antwort, denn der eigene Konflikt ließ ihn nicht über die Frage hinaus kommen, ob er sie tatsächlich auf Dauer schützen wollte. Nun beobachtete er diese schöne, junge Frau, während sie mit staunenden Blicken das Haus besichtigte und dabei den Rock ständig raffen musste, um nicht über den Saum zu stolpern.
"Ein Esszimmer? Werden wir denn gemeinsam essen?" fragte sie überrascht, als sie das Speisezimmer betraten. Armand breitete die Arme mit einem sanften Lächeln aus und blickte auf sie hinunter.
"Aber selbstverständlich. Ich bin ein Genießer und wir haben einen guten Koch!" schmunzelte er.
"Aber du.. du..bist ein Vampir?" Der Mundwinkel von Armand zuckte. Anya fiel auf, dass sie ihn noch nie schallend Lachen erlebt hatte.
"Das bin ich. Aber ich esse durchaus gerne. Es nährt mich nur nicht." Sein dunkler Blick ruhte auf ihr. "Und ich hasse Blutwurst." Anya lachte leise, wirkte aber dennoch leicht verwirrt. Armand zog sie an den Schultern zu sich heran und blickte auf sie herunter. Sie erkannte eine gewisse Gier in seinen Augen.
"Ich genieße deine Gesellschaft. Und mag deine Nähe." Raunte er leise. Eine feine Gänsehaut fuhr ihren Rücken herunter. Mit einem zaghaften Lächeln nickte sie und betrachtete sein Gesicht nachdenklich.
Sobald sie nah an ihm war, spürte sie das heftige Verlangen nach seinem Körper. Sie mochte die Erregung, die sich warm in ihr ausbreitete, aber gleichzeitig wuchs dabei die Unsicherheit, denn er hatte sie lange nicht mehr berührt. Und das letzte Mal.. nunja.. das hatte sie beinahe das Leben gekostet.
"Das Personal.. Warum hast du plötzlich Personal?" Sie versuchte, das Gespräch auf normalen Bahnen zu halten, während seine Hände sanft ihre Arme entlang glitten. Noch immer ruhten seine Augen intensiv auf ihr.
Sie sah das Blähen seiner Nasenflügel und wusste, dass er ihr kurzes Beben gespürt hatte.
"Damit du nicht kochen musst. Außerdem ist es hier in Marseille höchst auffällig, in dieser Gegend ohne Personal zu leben." Anya war sich nicht ganz sicher, ob ihm nun das unauffällige Leben wichtiger war oder ihre Bequemlichkeit. Aber sie nahm seine Antwort mit einem Nicken zur Kenntnis.
Er führte sie weiter durch verschiedene Salons. Das Haus war riesengroß. Sie fragte sich, warum er nicht in einem kleinen, bescheidenen Haus außerhalb der Stadt leben wollte, fragte aber nicht.
"Weiß das Personal denn, was du bist?" wollte sie stattdessen wissen. Er stieß ein kleines Schnaufen aus und führt sie die Treppe hinauf.
"Nein. Und das wird hoffentlich lange so bleiben." Seine Worte klangen sanft und leise. Doch der Blick, den er ihr zuwarf unterstrich die kleine Warnung, die in seiner Antwort mit schwang.
Der obere Gang war mit weichem Teppich ausgelegt.
Wie im alten Haus standen überall Kerzenständer. Aber Anya vermisste das Bild der schönen Marie. Mit einem feinen Lächeln öffnete Armand eine der Türen und sah auf sie herunter, als sie eintrat. Anya schnappte kurz nach Luft und sah sich mit klopfendem Herzen um.

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