Donnerstag, 26. Mai 2011

Noctambule II: Die verpasste Chance

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Dichter Nebel lag über der Stadt. Sogar für die wenigen Schritte von der Kutsche zur Tür schlug der Comte den Kragen seines Mantels hoch und mühte sich fröstelnd die Stufen zu seinem Haus hinauf. Die Tür öffnete sich bereits für ihn. Der Comte hatte keinen Blick übrig für seinen Butler. Mit knappem Nicken fegte er an ihm vorbei, zerrte sich den Schal vom Hals und stopfte ihn wütend in seinen Hut, den er quer durch die Halle schleuderte.
"Ich bin nicht zu sprechen!" fauchte er und knallte die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu.

Erst hier hielt er inne und atmete tief durch. Ein unangenehmes Druckgefühl in seinem Brustkorb hatte sich während der Heimfahrt aufgebaut. Er konnte es nicht weg atmen, egal wie oft er tief durch atmete.
Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und warf seinen Mantel über einen der bequemen Sessel. Dann trat er ans Fenster und schnaufte noch einmal. Kurz dachte er daran, dass er dringend sein Übergewicht abbauen sollte. Aber er schob den Gedanken beiseite. Dieser unfähige, unnütze, stammelnde Lechaivre hatte einen wichtigen Zeugen einfach entlassen. Und er konnte ihm nicht einmal erklären warum!
Wie immer, wenn er aufgewühlt war, wippte der Comte auf seinen Fersen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er war ratlos und das passte ihm überhaupt nicht. Voller Bedauern dachte er an den Herzog. So lange der Duc de Povignans den Posten inne gehabt hatte, herrschte Ordnung. Der Comte hatte sich zurück lehnen können und auf seinen beschaulichen Ruhestand mit seiner Familie gefreut.
Aber seit dem Tod des Herzogs war alles aus den Fugen geraten. Dieser Schmeichler Lechaivre hatte ihm Honig ums Maul geschmiert und allerhand versprochen. Nichts von allem hatte dieser Idiot einhalten können. Es half wohl alles nichts. Er musste selbst wieder die Führung übernehmen und Ordnung schaffen.
Unbehaglich rieb sich der Comte seinen linken Arm, der zu schmerzen begonnen hatte. Heute war irgendwie alles falsch. Und das Wetter da draußen hob seine Stimmung auch nicht gerade. Vielleicht half ein gutes Glas Wein. Der Comte verließ seinen Platz am Fenster und ging zu der kleinen Anrichte, auf dem eine verzierte Dekantierkaraffe mit feinstem Rotwein stand. Während er sich ein Glas einschenkte, klopfte es zaghaft an der Tür.
Der Comte hob stirnrunzelnd den Kopf und wollte gerade losbellen, dass er keine Störung wünschte, als die Tür sich zaghaft öffnete und Miriam herein kam.
"Du hast mich herbestellt, Vater." Miriams Stimme klang tonlos. Sie war blass und hielt die Finger vor sich verschränkt. Der Comte seufzte und Trauer gesellte sich zu seiner schlechten Laune. Seine hübsche, lebensfrohe und überschäumende kleine Tochter war verschwunden und einem stillen, blassen Mädchen gewichen, die völlig teilnahmslos zu sein schien. Wieder einmal fragte er sich, ob seine vorwurfsvolle Gattin nicht doch Recht hatte und er viel zu streng durchgriff.
Noch könnte er einen Rückzieher machen und seinen Plan fallen lassen. Aber würde das seine Autorität nicht völlig untergraben? Durfte er sich solchermaßen von seiner Tochter auf der Nase herumtanzen lassen und erlauben, dass sie vielleicht noch viel schlimmeren Unfug anrichtete?
Er seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas. Der Wein schmeckte nicht. Und er half auch nicht gegen den Druck, der ihm die Luft raubte. Dennoch zwang er sich, aufrecht stehen zu bleiben, statt in seinen Sessel zu sacken und einfach für fünf Minuten die Augen zu schließen.
"Ach ja." Er war nicht besonders begeistert von dem, was er Miriam zu sagen hatte. Und er hatte immer noch keine Antwort auf seine Zweifel gefunden.
"Ich habe einen Brief von meiner Cousine Margret erhalten. Sie freut sich auf deine Begleitung." Er tippte auf ein Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag und die Handschrift seiner Cousine trug. Ihm entging nicht, dass Miriam sich auf die Unterlippe biss doch er versuchte, den Stich zu ignorieren, den ihr jämmerlicher Anblick erzeugte.
"Du wirst in einer Woche mit deiner Mutter die Reise nach London antreten. Wir haben Glück, denn ein Schiff fährt direkt von Marseille aus nach London. Dort erwartet euch Margret in ihrem Stadthaus." erklärte er. Miriam senkte den Kopf tiefer und schien mit den Tränen zu kämpfen. Der Comte schluckte und rieb verstohlen seinen heftiger schmerzenden Arm.

Zu seiner Überraschung hob Miriam nun den Kopf. Ihre großen Augen wirkten müde und resigniert, als sie ihren Vater musterte. Mit einem langsamen Nicken straffte sich ihr Körper und sie schob das Kinn leicht vor, ganz typisch wie früher, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte.
"Du willst mich wirklich los werden, Papa. Ich habe mich entschuldigt und hatte viel Zeit zum Nachdenken, aber …" sie zuckte mit den Schultern. "Nun gut, dann ist es eben so. Nur eines solltest du wissen. Wenn ich dieses Haus hier verlasse, dann hast du keine Tochter mehr." erklärte sie leise, aber sehr ruhig. Der Comte blinzelte verwirrt.
"Wie meinst du das, Miriam?" jappste er und ein ziehender Schmerz zog sich durch seine Brust. Er musste sich mit den Fingerspitzen unauffällig auf dem Schreibtisch abstützen, um nicht zu schwanken. Miriam zuckte mit den Schultern.
"Du ziehst deine Konsequenzen und ich meine. So meine ich das. Deine Liebe zu Mama und mir scheint sich darauf zu beschränken, jemanden zu haben, den du herumkommandieren kannst. Keine Sorge! Sobald wir auf dem Schiff sind, kannst du deine Dienstboten schikanieren. Aber nicht mehr mich!" Sie war nicht laut geworden. Kurz nickte sie und drehte sich um.
Als sie die Tür hinter sich schloss, sackte der Comte jappsend auf seinen Sessel und presste die Hand auf seinen schmerzenden Brustkorb. Es war zu spät. Wenn er nun nachgeben würde, dann musste Miriam denken, er habe dieser emotionalen Erpressung nachgegeben. Er hatte seine Chance verpasst.

1 Kommentar:

  1. Tja - So ist das mit Hypnose - Da weiss man dann nicht mehr, was man getan hat. Gilt übrigens auch für exzessiven Bierkonsum.

    Und nun hat der Comte ein Stechen in der Brust und einen schmerzenden linken Arm? Na das wird doch hoffentlich ein Infarkt sein?

    Und Miriam versagt ihrem Vater die Verwandtschaft, sobald sie hinaus ist? Sollte das Plan C gewesen sein? Doch eigentlich ist das alles egal, wenn er nicht bald etwas unternimmt, wird er niemanden mehr schikanieren können. Nur glaube ich, dass im 18. Jahrhundert niemand weiss, WAS zu unternehmen ist.

    Gruß
    Joe

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