Freitag, 15. April 2011

Noctambule II: Ich sehe dich

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule


Der Bauernhof, den Sergej und Anya etwas außerhalb der Stadt gefunden hatten, war noch nicht lange verlassen. Genau genommen, war er erst seit einer Stunde verlassen, nachdem Sergej den Bauern zu Armand gebracht hatte. Der Hof selbst war nicht groß. Ein paar Felder gehörten dazu, auf denen der Lavendel gerade abgeerntet worden war.
Das Haus war malerisch umsäumt von Pfirsichbäumen. Es war kleiner als die Scheune, in der das gesamte Werkzeug des Bauern untergebracht werden musste, aber immerhin reichte es für eine gemütliche Wohnstube, eine Küche und drei Schlafräume.


Sergej hatte sich das kleinste Zimmer ausgesucht und darin häuslich eingerichtet, indem er die Fensterläden geschlossen und die schweren Vorhänge zugezogen hatte. Der Rest war ihm völlig egal. Allerdings verspürte er nun einen bohrenden Hunger und so schlenderte er zu Anya in die Küche, um sich von ihr zu verabschieden.
"Du gehst fort?" fragte sie ihn überrascht und zog den letzten Fensterladen zu. Da sie ihn noch verriegelte, entging ihr sein breites Grinsen. Er hatte es wieder unter Kontrolle, bevor sie sich ihm zuwandte.
"Keine Sorge, ich bin bald wieder da. Aber wir sollten erstmal in weiteren Kreisen jagen und die Städter nicht noch mehr verunsichern." Er beugte sich in einem Anfall von Fürsorge zu ihr herunter und hauchte ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn.
"Pass gut auf euch beide auf." flüsterte er und verließ rasch die Küche. Anya starrte ihm verblüfft hinterher.
Für Anya war Sergejs Fortgehen irritierend. Wenn er wirklich jagen wollte, dann hatte er für diese Nacht nicht mehr viel Zeit. Sie hatte eher den Verdacht, dass der Freund Armand und ihr die Gelegenheit geben wollte, endlich einmal ganz für sich alleine zu sein.
Der Gedanke ließ Anya lächeln. Seit Armands Befreiung hatten sie tatsächlich kaum Zeit füreinander gehabt. Es gab so viel zu klären, zu erklären und neu zu definieren. Sie freute sich darauf, mit Armand alleine zu sein, aber ihr schlechtes Gewissen Sergej gegenüber drosselte die Freude. Er würde ihretwegen wahrscheinlich die Nacht irgendwo draußen verbringen und sie wusste ja inzwischen selbst, dass dies nicht die angenehmste Art zu übernachten war.
Mit einem kleinen Seufzer wandte sie sich um und ging leise zurück in das gemeinsame Schlafzimmer, um nach Armand zu sehen. In der Küche hatte sie saubere Leinentücher gefunden, die in Streifen gerissen schöne und saubere Verbände für Armands Augen abgeben würden.
Als sie das Zimmer betrat, stand Armand mit dem Rücken zu ihr am zugezogenen Fenster. Er drehte den Kopf nur minimal seitlich, schwieg aber. Anya stellte die Kerze auf dem kleinen Nachttisch ab und legte die Leinentücher daneben.
"Wenn du mich nur deine Augen sehen lassen würdest, könnte ich sie vielleicht mit Kräuterumschlägen behandeln." meinte sie leise. Während sie sich aufrichtete, drehte Armand sich schweigend zu ihr um. Anya blickte mit offenem Mund zu ihm auf. Seine faszinierenden schwarzen Augen musterten sie mit einem dunklen Glitzern. Um seine Mundwinkel spielte das feine Lächeln, das sie so liebte und sein Kopf neigte sich langsam seitlich, als er zu ihr herunter sah.
"Deine Augen…" hauchte Anya ungläubig. Armands Braue zuckte kurz nach oben.
"Ich sehe dich." raunte er. Anya musste den Kopf weit zurück legen, um dem großen Mann ins Gesicht sehen zu können. Ein Schauer packte ihren zierlichen Körper. Mit seinen Augen war sein alter Zauber zurückgekehrt. Einmal mehr fühlte sie sich wie das hilflose Spielzeug eines Raubtieres und vergaß darüber völlig, dass sie selbst zu einem geworden war.

Armand hatte jeden Tag vorsichtig geprüft, ob er wieder sehen konnte. Seine Hoffnungen waren mit jedem Tag gestiegen, denn aus dem Dunkel waren verwischte Konturen geworden, die sich allmählich schärften und auch jetzt lag noch ein kleiner Schleier über seiner Sehkraft. Aber er konnte endlich wieder sehen.
Die letzten zwanzig Minuten hatte er jedem Schritt Anyas gelauscht und ihre Rückkehr kaum erwarten können. Seine Kleidung war schäbig und schmutzig geworden. Während der Wartezeit hatte er versucht, sie einigermaßen wieder zu richten, um sich von der ungeduldigen Vorfreude abzulenken, Anya endlich sehen zu können.
Er hatte sie in normalen Kleidern, Abendgarderobe und nackt gesehen aber noch nie in Hosen und Hemd. Ihre Bewegungen waren geschmeidiger, ihre Körperhaltung aufrecht wie früher auch und ihr Gesicht hatte an Schönheit nur noch gewonnen. Nach wie vor war sie sehr viel kleiner als er und auf eine zerbrechliche Weise zierlich.
Für den Bruchteil einer Sekunde, in der sie sich noch unbeobachtet gefühlt hatte, konnte er ihre neue, kraftvolle und geschmeidige Anmut genießen. Doch nun, als sie erkannt hatte, dass er wieder gesund war, schien sie komplett jede Verantwortung wieder auf ihn zu übertragen. In ihren Augen lag die alte Hingabe und Scheu und als er den Kopf leicht neigte, senkte sie den Blick kurz blinzelnd auf den Boden, nur um sofort wieder aufzusehen und sich zu vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Armand konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass diese kleine Frau vor ihm zu einem Vampir geworden war. Und so sehr er sich auch anstrengte, noch immer konnte er nicht in ihre Gedanken sehen. Als seine Finger sanft über ihre Wange strichen, hörte er ihren kleinen Seufzer und lächelte. Der Gedanke, was er bereits alles mit ihr getan hatte und wieder tun würde, erregte ihn schlagartig.
Er beugte seinen Kopf langsam zu ihr herunter und hielt dabei mit zwei Fingern ihr kleines Kinn fest. Seine Nase strich über ihre Wange und wanderte zu ihrem Hals. Sofort versuchte sie, den Kopf leicht zu neigen, um ihren Hals besser zur Geltung zu bringen. Lächelnd erlaubte er es ihr, strich mit der Nasenspitze über ihre Halsschlagader und genoss die Zartheit ihrer Haut.

2 Kommentare:

  1. Die Selbstheilungskräfte von Vampiren sind ja wirklich ungemein. Und auch sehr neiderregend.

    Armand kann sie also wieder sehen. Aber er riecht sie nicht mehr. Dennoch scheint ja das alte Gefühl noch voll da zu sein. Was heißt das nun für die Beziehung der beiden? Außer, dass sie keine Angst mehr haben muss, dass er sie beißt, ist doch eigentlich alles beim Alten. Wie es wird, muss die Zeit zeigen.

    Aber ihre alten Verhaltensweisen legen sie doch noch nicht ganz ab. Er schnüffelt weiter an ihrer Schlagader. Obwohl da tatsächlich nichts Verführerisches drin ist. Aber man kann auch nicht von jetzt auf gleich aus seiner Haut.

    Achja - Und Sergej ist ein sehr verständnisvoller Freund. Hoffentlich belohnt die Nacht ihn mit einem guten Opfer.

    Gruß
    Joe

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  2. ich glaube auch das er anya trotzdem noch begehrenswert wegen ihrer person an sich findet und eben nicht nur deswegen das sie wie ein appetitlicher leckerbissen geduftet hat.
    das wäre ja auch ziemlich mies gewesen :D

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