Mittwoch, 23. März 2011

Noctambule: Epilog - I

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Matteo pfiff zufrieden vor sich hin, während er über den Feldweg stapfte. Die Luft duftete nach taufrischer Erde, Gras und dem würzigen Aroma eines beginnenden heißen Tages. Noch war der Himmel über ihm dunkel, aber der erste zaghafte Schimmer des jungen Tages deutete sich bereits am Horizont an. Matteo war gut gelaunt wie fast immer. Als jüngster von drei Brüdern war er der zuverlässigste, der jeden Morgen zur gleichen Zeit aufwachte und sofort aufsprang, um seine trägen Brüder aus den Betten zu werfen.


Während sich Francesco und Luca maulend aus dem gemütlichen Bett quälten, schaufelte sich der einfältige Matteo bereits klares Brunnenwasser über den kräftigen Oberkörper, zog sein ständig schmutziges Hemd an, setzte sich seinen zerfaserten Strohhut auf den massigen Schädel und marschierte auf seine geliebten Felder.
Für Matteo gab es nichts Schöneres, als jeden Morgen nach den jungen Reben zu schauen. Mit seinen groben, dicken Fingern band er erstaunlich geschickt die zarten Pflanzen hoch oder untersuchte sie liebevoll nach Schädlingen. Manchmal sprach er auch mit ihnen. Ihm war egal, dass seine Brüder ihn deshalb auslachten. Er glaubte fest daran, dass seine Reben nur noch besser wuchsen, wenn er mit ihnen sprach und ihnen zeigte, dass er sie verstand. Und schließlich bewiesen sie ihm jedes Jahr mit einem köstlichen Wein, dass er Recht hatte.
Sein alter Vater hatte wohl als Einziger erkannt, dass Matteo das richtige Gefühl für seine Arbeit hatte. Mit Geld konnte er nicht umgehen und er besaß keinen Sinn für teuer oder billig. Kochen konnte er ebenso wenig. Er konnte sich nicht merken, welche Zutaten man benötigte und wie lange man sie kochte. Das war alles viel zu kompliziert. Selbst einfache Dinge wie Wäsche waschen oder die nasse Wäsche auf die Leine zu hängen scheiterten. Matteo zerriss die Wäsche mit seinen grobmotorischen Kräften und oft hatte er nur einige Teile aufgehängt und den Rest einfach liegen lassen, bevor er verschwunden war. Jedes Mal fand ihn die suchende Familie auf den Feldern zwischen den Weinpflanzen.
Seltsamerweise war es Matteo nicht zu kompliziert, sich zu merken, welche Tiere Schädlinge oder Nützlinge waren. Instinktiv erkannte er, welche Triebe er ausgeizen musste und welche Trauben er entfernen musste, um den verbleibenden Früchten genug Zucker zukommen zu lassen.
Auch an diesem Tag freute er sich auf seine Arbeit. Die Reben waren noch jung und begannen gerade, sich zu entfalten. Mit liebevollem Gemurmel und viel Zeit zog er durch die Rebengänge und übersah keine einzige der mannshohen Pflanzen. Zwar war es noch sehr dunkel, um Schädlinge zu erkennen. Die würde er später bei der zweiten Runde in der Mittagszeit entdecken und ausmerzen. Jetzt, in der endenden Dunkelheit erkannte er genug, um aufmüpfige Zweige wieder einzufangen und mit geschickten Handgriffen wieder an die Rankhilfen zu binden.
Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er mit einem lauten Schrei zurückfuhr, als er beim Auseinanderbiegen zweier Triebe in ein blasses Gesicht sah. Mit Herzklopfen wagte er einen zweiten Blick. Aber das Gesicht war verschwunden. Matteo verstand das nicht. Hier war sonst nie jemand. Und schon gar keine Frau. Er könnte schwören, in das bildschöne Gesicht einer blonden Frau gesehen zu haben.
Aber Frauen machten ihn schüchtern. Er bekam kein Wort mehr hinaus und fühlte sich unwohl. Entweder lachten sie ihn aus oder sie hatten überhaupt kein Interesse an seinem einzigen Gesprächsthema: dem Wein. Er mochte nicht ausgelacht werden. Er wollte hier keine Frau haben.
Vorsichtig bog er die Zweige noch einmal auseinander. Aber da war nichts. Er grinste erleichtert. Durch den Schreck hatte er die Rolle mit der Schnur verloren. Suchend bückte er sich und sah sich auf dem Boden um. Sein Herz setzte für eine Sekunde aus, als er auf zwei nackte Frauenfüße schaute. Er taumelte zurück und stolperte in die Reben. Zweige gaben brechend dem Druck seines schweren Körpers nach, aber die Konstruktion der hochgebundenen Pflanzen hielt ihn. Mit offenem Mund stierte er die kleine Person vor sich an.
Matteo hatte außer seiner Mutter noch nicht viele Frauen gesehen. Aber diese hier war das sinnlichste Geschöpf, das ihm jemals begegnet war. Ihre blonden Haare waren zwar strähnig und völlig zerzaust und sie trug unanständige Hosen. Aber ihre Augen strahlten so sehr, dass Matteo glaubte sie würden leuchten und der wunderschöne Mund in dem bleichen Gesicht schien nur zum Küssen da zu sein. Bei diesem Anblick blieb ihm sein Mund offen stehen und er verzieh ihr sogar, dass er vor Schreck seine geliebten Reben abgebrochen hatte.
Noch während er versuchte, sich zu sammeln und dabei krampfhaft an den stabilen Rankhilfen festklammerte, riss sie plötzlich ihren Mund weit auf. Matteo nässte vor Schreck ein, als er das scharfe, spitze Gebiss sah. Ihre Augen glühten auf und verliehen ihrem Gesicht etwas Wildes, Unbezähmbares. Als sie ihn ansprang, reagierte er nur noch instinktiv. Seine großen Hände schossen wie Vorschlaghammer nach vorne, um sie abzuwehren. Sie prallte gegen die Hände und wurde zurückgeworfen. Wieder brachen Reben. Matteo dachte nicht weiter nach.
Mit schrillem Kreischen und rudernden Armen trat er die Flucht an. Er war noch nie viel gerannt in seinem Leben. Seine Schritte waren plump und schwerfällig, bald keuchte er atemlos, aber seine schrillen Schreie waren weithin hörbar. Er sah nicht, wie die blonde Frau hinter ihm seelenruhig aufstand und ihm nachsah. Nachdem er einiges an Vorsprung wett gemacht hatte, spurtete sie los.
Das menschliche Auge hätte sie nicht verfolgen können. Matteo spürte den Aufprall auf dem Rücken und rannte einfach weiter, obwohl sie sich an ihm festklammerte. Wild versuchte er, hinter seinen Kopf zu schlagen. Aber der scharfe Schmerz in seinem Hals lähmte ihn plötzlich und brachte ihn zum Stehen. Mit aufgerissenen Augen spürte er, wie sich die Zähne noch tiefer in seinen Hals gruben und seine Hauptschlagader verletzten. Dann sackte er röchelnd auf die Knie. In sein Gesicht trat ein staunender Ausdruck. Noch nie hatte er gleichzeitig Schmerz und so starke Erregung verspürt, während mit kräftigem Sog sein Blut aus den Adern gezogen wurde. Mit entrücktem Blick fiel er nach vorne wie ein gefällter Baum.

1 Kommentar:

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