Montag, 21. März 2011

Noctambule: Das Recht der Ältesten

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Er packte Anya an den Schultern und schüttelte sie.
"Anya?! Reiß dich zusammen. Da drüben ist Armand!" zischte er sie an. Anya starrte ihn einige Sekunden lang an, bevor sie verstand. Ihr Blick klärte sich wieder und ihr Kopf fuhr herum. Mit einem angestrengten Ächzen kroch sie auf allen Vieren zu Armand, der noch immer stöhnend an der Wand hing und von den Kämpfen keine Notiz genommen hatte. Voller Sorge und Angst erreichte Anya ihn, richtete sich auf und umgriff mit beiden Händen vorsichtig das zerschundene Gesicht Armands.


"Armand? Ich bin da.. alles wird gut." flüsterte sie mit erstickter Stimme. Sie versuchte seinen Kopf anzuheben. Er reagierte nur mit einem Stöhnen. Auch sein Gesicht war nicht verschont geblieben. Es wirkte sogar noch zerstörter als der Oberkörper. Mit gequältem Aufschluchzen erkannte Anya, dass er seine Augen kaum öffnen konnte. Tränen hingen in seinen langen Wimpern. Seine Lippen waren rissig und trocken. Am Schlimmsten waren aber seine Augen. Die Lider waren angeschwollen und teilweise aufgerissen. Die Augäpfel waren entzündet und dunkelrot. Leer starrten sie zwei schwarze Pupillen an.
Sergej war sofort bei ihr, als er ihr entsetztes Stöhnen hörte. Er erstarrte beim Anblick seines Freundes. Aber dann setzte sein Verstand wieder ein.
"Ich hebe ihn an. Mach die Schellen auf!" befahl er barsch. Er umgriff Armand an der Taille und hob ihn an.
"Mach dich nicht so schwer, Kumpel!" ächzte er dabei. Anya wurde von Sergejs rüdem Ton aus der Starre gerissen. Mit zittrigen, fahrigen Fingern brauchte sie mehrere Anläufe, ehe sie die Metallstifte aus ihrer Verankerung ziehen konnte. Endlich sprangen die Schellen auf und Armand sackte kraftlos gegen den taumelnden Freund.
"Uff!" entfuhr es Sergej. Er packte Armand und warf ihn sich über die Schulter. Wieder ächzte er.
"Mann, was musst du so schwer sein?" stöhnte er angestrengt. Ruppig stieß er die noch immer fassungslose Anya gegen die Schulter.
"Komm schon! Wir müssen hier raus! Sofort!" Das weckte Anya endlich richtig. Sie griff nach dem Messer, das auf dem Boden nicht weit von Sanghieri lag und wollte Sergej mit seiner Last folgen, der mühsam die ersten Schritte machte.
In diesem Moment wurde die Tür zum Keller mit einem Knall aufgestoßen. Schwere und hastige Schritte kündigten die Ankunft mehrerer Männer an, bevor sie zu sehen waren. Dann tauchten sie im Schein der Fackeln auf. Acht Männer, bewaffnet mit Messern, Degen und Keulen, verteilten sich und bildeten eine breite Front vor Sergej und Anya. Seitlich von ihnen erhob sich torkelnd ein Schatten zwischen den Säulen. Fabrizio hatte sein Bewusstsein wieder erlangt und gesellte sich nun zu seinen Leuten, ein böses Funkeln in den Augen.

Anyas Schreckstarre dauerte nur wenige Sekunden. Dann kehrte sie um und hockte sich neben den alten Sanghieri, das Messer sofort wieder an seiner Kehle.
"Ein falscher Schritt und dein Vater ist mausetot!" zischte sie wild entschlossen. Sergej konnte den Kopf nicht zu ihr drehen. Armands Körper drückte ihn ein wenig nach vorne. Ächzend rückte er seine Last noch ein wenig besser auf den Schultern zurecht.
Fabrizio hob seine Hand und mahnte damit seine Männer zur Ruhe. Seine Augen lagen mit tiefer Feindseligkeit auf Anya.
"Wenn du ihn tötest, bewirkt das nur, dass du qualvoller sterben wirst als so. Aber sterben werdet ihr alle drei!" antwortete Fabrizio kalt. Dennoch griff er nicht an, sondern zögerte unentschlossen. Anya gewahrte die leichte Bewegung Sanghieris und blickte auf ihn hinunter. Die alten Augen des Mannes sahen sie klar und erstaunlich fit an.
"Ich habe dich beobachtet, junge Dame. Dein Schlag hatte mich nicht lange außer Gefecht gesetzt. Du verblüffst mich. Ich kann dich weder lesen noch irgendwie beeinflussen, obwohl du eine Unreine sein musst." Seine vorhin noch jung klingende Stimme wirkte nun alt und brüchig. Anya musterte ihn kalt und nickte.
"Ich weiß nicht, warum das so ist." meinte sie knapp und einigermaßen verblüfft, denn der alte Mann lächelte milde. Fragend betrachtete sie sein Gesicht.
"Ich möchte mich aufsetzen. In meinem Alter ist das Liegen auf dem Boden nicht besonders amüsant." bat Sanghieri und erstaunte sie gleich noch einmal. Zögernd nickte sie und nahm das Messer von seiner Kehle. Ächzend und mühsam setzte sich der alte Vampir auf und atmete erleichtert durch.
"So ist es besser. Vielen Dank." Anya blieb wachsam und angespannt. Doch ging von dem alten Mann weniger Gefahr aus als von den unruhig werdenden Männern, die mit einer neuen Bewegung Fabrizios zur Ruhe gebracht wurden. Auch der Alte bemerkte die Unruhe und warf seinem Sohn einen mahnenden Blick zu.
"Du hast eine von den Unsren getötet." erklärte Sanghieri nun mit einem Blick auf Isabelle.
"Ich nehme an, dir ist nicht klar, was das bedeutet. Dein Leben ist bereits verwirkt, so jung wie es noch ist." In seiner Stimme schwang eine gewisse Trauer mit. Anya schluckte und presste kurz die Lippen aufeinander.
"Das Eure auch. Und es werden noch mehr sterben, wenn Ihr Euren Wachhunden nicht befehlt, uns hinaus zu lassen." erwiderte sie trocken. Sanghieri lächelte weiter.
"Aber warum sollte ich das tun? Ihr habt keine Chance." Sergej ächzte unter Armands Last und schwankte zu der nächstbesten Säule, wo er Armand vorsichtig absetzte und stützend anlehnte, um seinen eigenen Rücken ein wenig zu entlasten, in erster Linie aber um notfalls handlungsfähig zu sein.
Anya wurde seltsam ruhig. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, mit Sanghieri reden zu können. Sie fühlte sich sogar ein wenig zu ihm hingezogen und musste sich selbst daran erinnern, dass gerade dieser alte Mann dem Foltern von Armand zugestimmt hatte. Dennoch wirkte der Alte in gewisser Weise gütig. Sie konnte es nicht einordnen, aber sie wollte lieber zornig und kampfbereit sein und rief sich zur Ordnung.
"Ich weiß nicht, warum Ihr Armand so hasst. Aber ich liebe ihn." Anya fragte sich verwirrt, warum sie dem Alten das erzählte. Selbst Sergej runzelte die Stirn.
"Wenn Ihr uns tötet, seid Ihr nicht besser als wir. Und ich könnte schwören, dass auch Ihr schon Vampire getötet habt! Nennt mir den Grund dafür." Sanghieri lachte stumm. Nur seine Schultern zuckten, während sein Blick zu seinem Sohn wanderte.
"Die Alten lehren die Jungen. Sie richten auch über sie. Das ist seit je her so. Den Alten gebührt Respekt und Achtung. Was sie sagen, ist Gesetz. Dass du mich bedroht und sogar niedergeschlagen hast, ist nicht nur dreist sondern ein Verbrechen. Es ist mein gutes Recht, dich zu töten." meinte er ruhig.
Anya hatte ihm gut zugehört und nickte nun langsam. Das Flattern in ihrem Magen verschwand plötzlich.
"Dann tötet mich. Aber lasst Armand und seinen Freund ziehen." sagte sie ruhig.

2 Kommentare:

  1. Anya beeindruckt einmal mehr.

    Aber irgendwie wirkt der Alte lange nicht so mordlüstern, wie seine Truppe. Und sie werden auf ihn hören. Jetzt bin ich gespannt, wer alles den Keller lebend verlässt.

    Gruß
    Joe

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  2. Der alte Vampir wird das schon einsehen, der soll mal nicht son Spießer sein...ihm ist nichts passiert und Isabell hats verdient^^

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