Sonntag, 6. März 2011

Noctambule: Die Schatten der Vergangenheit

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Armand hatte einfach aufgegeben. Die Schmerzen waren so schlimm gewesen, dass es ihn fast die Besinnung geraubt hatte. Durch einen Nebel spürte er, dass seine Füße über holprigen Boden schleiften. Er hing zwischen zwei stämmigen Kerlen, die in an den Oberarmen gepackt hatten und mit sich zerrten. Wenn er den Kopf leicht hob, sah er die Füße von George, der schnellen Schrittes vorausging.
Kurz fiel ihm Sergej ein, der nicht mehr rechtzeitig eingetroffen war. Er hoffte, dass Sergej ihn aufgegeben hatte und nach Anya suchte. Er würde für sie wohl nichts mehr tun können.


Eine schmale Tür wurde nach energischem Klopfen Georges geöffnet. Er versuchte zu verstehen, was gesagt wurde. Es war italienisch und er hatte lange nicht mehr in dieser Sprache geredet. Erschöpft gab er den Versuch auf, dem hastigen Wortwechsel zu folgen und ließ zu, dass man ihn hineinschleifte und grob einige Stufen nach unten zerrte.
Der unebene Steinboden war ein deutliches Indiz dafür, dass er in einen Keller geschleift wurde. Die Schritte der Männer hallten stark und wiesen auf ein regelrechtes Kellergewölbe hin. Der Schmutz hier unten, der zum Teil dick in den Ecken lag, ließ Armand vermuten, dass der Keller nicht mehr oft genutzt wurde.
Schweigend zerrten die Männer Armand zu einer Wand und wuchteten seinen langen, schweren Körper in eine aufrechte Haltung. Er wurde an die Wand gedrückt, seine Arme seitlich abgestreckt und die Handgelenke in eiserne Schellen gezwungen. Mit zusammen gebissenen Zähnen schaffte Armand es, stehen zu bleiben und sich an der Wand abzustützen. Er weigerte sich, den Männern die Freude zu bereiten, zusammenzubrechen und sich die Haut an den rostigen Schellen aufzureißen, wenn er mit seinem ganzen Gewicht daran hing.
Schwer atmend suchte er im Halbdunkel nach George. Er konnte ihn nicht entdecken. Auch nicht, als die Männer mehrere Fackeln anzündeten und in die Halterungen an den Wänden steckte. Niemand sprach ein Wort. Die beiden Männer fixierten ihn gleichgültig, verschränkten die Arme und warteten einfach.
Lange Zeit geschah nichts. Armand hatte Zeit, seine Umgebung genauer zu betrachten. Er befand sich tatsächlich in einer Art Gewölbe fast wie ein langer, breiter Gang, der von Säulen gesäumt war. Zwischen den Säulen befanden sich Nischen. In einigen von ihnen konnte er Stapel von Kisten und Fässern erkennen. In weiten Bögen schwang sich die Decke von Säule zu Säule. Die Fackeln warfen nur spärliches Licht und ließen die tanzenden Schatten um so größer wirken.
Dann endlich war das gleichmäßige, langsame Geräusch eines Stocks zu hören, der schwer auf den Boden schlug. Die dazugehörigen Schritte hörte Armand erst kurz bevor er die Gestalten sah, die ihm entgegen kamen. Einer davon war George.
Ein triumphierendes Grinsen breitete sich in Georges Gesicht aus, als er sich Armand mit gezierten Schritten näherte. Armand behielt den Kopf leicht gesenkt und fixierte George mit finsterem Blick durch die halb gesenkten Wimpern. Die Botschaft in seinen Augen war eindeutig. George grinste noch breiter.
Neben George war der Auslöser für die rhythmischen Stockschläge auf dem Boden. Noch nie hatte Armand einen derart alten Vampir gesehen. Weiße Haare, die einfach zu einem Zopf gebunden waren, umrahmten ein sehr faltiges, mageres Gesicht. Der dünne Körper war gebeugt und die krallenartige rechte Hand stützte sich schwer auf den silbernen Knauf des schwarzen Stocks.
Armand hatte keine Ahnung, wer das sein könnte. Aber es war eindeutig, dass dieser Mann eine hohe Position inne hatte und Drahtzieher dieser Aktion sein musste. George war wieder einmal nur eine Marionette, die gerne gehorchte, weil er selbst noch eine Rechnung mit Armand offen hatte. Etwas mühsam hob Armand nun aufmerksam den Kopf.


Als der alte Mann zu sprechen begann, wirkte seine Stimme kraftvoll, klar und jung. Er hatte Armands Muttersprache gewählt, aber der italienische Dialekt war nicht zu überhören.
"Das also ist der große Armand Sartous." Es war keine Frage. Eine einfache Feststellung eher. Falkenartige, grüne Augen musterten Armand aus tiefen Höhlen, kalt und berechnend, aber auch voller Neugierde. Armand hatte darauf nichts zu sagen. Schweigend versuchte er, in seiner demütigenden Position noch ein wenig Stolz aufzubringen. Sein Blick lag mit unergründlichem Ausdruck auf George, der lächelnd ein imaginäres Staubkörnchen von seinem Ärmel schnippte.
Das Schweigen schien endlos zu dauern. Der alte Mann hatte es wohl nicht eilig. Sein Blick wich nicht von Armands Gesicht. Ein leichter Schwindel packte ihn und in seinem Kopf baute sich ein dumpfes Druckgefühl auf. Armand spürte deutlich, wie der alte Mann versuchte, in ihm zu lesen und baute seine Blockade auf. Ein kleines Schmunzeln zuckte in den alten Mundwinkeln. George war es, der das Schweigen brach.
"Groß ist er wohl, aber erstaunlich schwach. Man ist wohl nur stark, wenn man eine schwache Frau vor sich hat." höhnte er. Der alte Vampir ließ von Armand ab und wandte sich mit einer wackligen Körperdrehung George zu. Sein langer und dünner Hals bog sich wie bei einem Geier, als er George musterte.
"Unreine wie er und auch du sind immer schwach gegenüber den Reinen, mein Junge." belehrte er schneidend. "Dennoch würde ich diesen jungen Mann niemals unterschätzen. Er ist stärker als du, zumindest was seine Fähigkeiten betrifft!" Er drehte seinen Körper wieder in Armands Richtung und stützte sich schwer auf seinen Stock dabei.
"Deine Fähigkeiten sind beeindruckend und dreist. Noch nie hat ein Unreiner gewagt, sich einem Reinen zu verschließen! Ist Dir nicht bekannt, dass du uns unterlegen bist und zu dienen hast, junger Mann?" In seiner Stimme lag Tadel. Aber auch die Resignation des Alters gegenüber der Jugend. Er klopfte mit dem Stock auf den Boden, als Armand eine Braue hob.
"Ich sehe keinen Grund Euch zu dienen. Ich bin frei und unabhängig." Armand hatte den Kopf nun ganz gehoben. Seine Arme waren schräg nach oben von ihm abgespreizt. Immer wieder spannte er seine Arm- und Beinmuskeln an, um für frische Durchblutung zu sorgen und Kraft hineinzupumpen.
Der alte Mann stieß ein amüsiertes Kichern aus.
"Wie Recht du hast! Ich sollte mich einmal vorstellen." entgegnete er und legte den Kopf leicht seitlich. "Ich bin Antonio Sanghieri, Oberhaupt der Familie." Er sprach sachlich und ohne besonderen Stolz. Entweder war er diese Position schon so lange gewohnt, dass es nicht Besonderes für ihn darstellte oder aber er war tatsächlich bescheiden. Letzteres konnte sich Armand nicht vorstellen. Unbeeindruckt musterte er den alten Mann.
"Sicher habt Ihr Verständnis, dass die gegebenen Umstände mich an einer höflichen Begrüßung hindern." Armands Stimme triefte vor Sarkasmus und Sanghieris Mundwinkel zuckten kurz. Aus den Augenwinkeln bemerkte Armand, dass George sich intensiv mit seinen Fingernägeln beschäftigte und Langeweile demonstrierte.
"Würdet Ihr mich bitte aufklären, warum Ihr mich hier gefangen haltet?" bat Armand. Es fiel ihm zunehmend schwerer, die Demütigung dieser Fesseln zu ertragen. Gleichzeitig nagte die Angst um Anya an seinen Nerven. Er musste sich zwingen, George zu ignorieren, damit er ihm keine hasserfüllten Blicke zuwarf und George damit zu noch mehr Hohn reizte.
"Nun, mir wurde berichtet, dass du von einer Frau namens Adaliz erschaffen wurdest. Ich wüsste gerne mehr, bevor ich dich meinem ungestümen Freund hier überlasse." Sanghieri deutete mit einer kleinen Kopfbewegung auf George, der Armand sofort einen bösartigen Blick zuwarf. Aufmerksam musterte Armand den Alten.
"Das ist lange her. Welchen Grund könnte es geben, dass diese Geschichte Euer Interesse weckt?" Armand ahnte, worauf es hinaus laufen würde. Er dachte an Sergej, dem er damals das Leben gerettet hatte. Ob Sergej diesmal pünktlich sein würde, um sich nun zu revanchieren? Er bezweifelte es.
Sanghieri richtete sich mühsam zu voller Größe auf und stemmte sein Gewicht gegen den Gehstock. Mit kalten Blicken betrachtete er Armand.
"Das ist sehr einfach. Adaliz ist meine Tochter!"

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