Montag, 14. März 2011

Noctambule: Anyas Jagd

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Sergej zeigte ihr, wie sie klettern konnte. Sie war selbst überrascht, wie einfach es plötzlich war, hohe Mauern zu erreichen oder sich an einer Dachrinne hochzuziehen. Nach einigen Versuchen an leeren Schuppen schaffte sie es sogar recht leise, wobei sie aber ihr zerrissenes Kleid so behinderte, dass sie die Geduld verlor. Sie brauchte etwas anderes zum Anziehen.


Hilfe fand sie in dem Hof einer Wäscherei, wo auf etlichen Leinen reichlich Wäsche hing. Sergej lehnte grinsend mit verschränkten Armen auf der anderen Seite der Mauer während Anya sich dort leise eine Hose von der Leine stahl, die sie mit Hilfe von Sergejs Messer einfach auf ihre Länge kürzte und mit einem Streifen ihres Kleides als Gürtel um ihre schmale Taille passend machte. Ein Hemd fand sie ebenfalls, das ihr zwar auch ein wenig zu groß war, aber es war das Kleinste, das sie finden konnte.
Sie ließ ihr Kleid einfach auf dem Hof liegen, die unpraktischen Schuhe ebenfalls. Sie blieb einfach barfuß und sprang auf die Mauer, wo sie begeistert auf die andere Seite schwang und geschmeidig neben Sergej auf dem Boden landete und sich abfedernd wieder aufrichtete. Sie strahlte.
"Das ist viel besser!" verkündete sie. Sergej lachte und zog anerkennend die Brauen hoch.
"Gefällt mir auch viel besser als dieser Fetzen vorher." stimmte er zu. "So, und jetzt wird gejagt. Komm mit." Im Laufe des Tages hatte er ihr viel über die Jagd erzählt. Nun wollte er sie nur begleiten und im Notfall eingreifen, falls etwas schief ging. Und passieren konnte vieles. Sie konnte zu viel Lärm verursachen und andere Menschen alarmieren, von einem wehrhaften Mann verletzt werden, sich aus Versehen an einem zu alten, betrunkenen oder kranken Menschen vergreifen und letztendlich bestand die Gefahr, dass sie nicht rechzeitig aufhörte zu trinken.
Er überließ Anya die Suche und beobachtete sie erstaunt. Er hatte erwartet, dass sie noch von Skrupeln gebeutelt werden würde. Das wäre auch normal, zu nah hätte sie noch ihren ehemaligen Mitmenschen stehen können und sie hätte angewidert von ihrem mörderischen Tun sein können.
Nichts von alledem war an ihr zu erkennen. Sie wirkte fast, als wollte sie das so schnell wie möglich lernen und erleben. Sie war konzentriert, lauschte mit knappem Nicken seinen belehrenden Worten und kurzen Befehlen, befolgte sie sofort und setzte mit erstaunlicher Präzision das frisch gelernte um. Ihr sonst so weiches Gesicht wirkte hart und angespannt. Ihre großen Augen mit dem unschuldigen Blick waren nun schmal gezogen, funkelnde Entschlossenheit ließ sie glänzen. Ihre sinnlichen Lippen, die nun noch roter wirkten durch die neue Blässe in ihrem Gesicht, waren fest aufeinander gepresst.
Anya machte nicht viel Federlesens um ihre erste Jagd. Sie war einige Schritte vor Sergej in einer Seitenstraße, als er bemerkte, dass sie Witterung aufnahm. Auch er hatte den jungen Mann bemerkt, der ihnen direkt in die Arme laufen würde. Anya wartete, bis er um die Ecke kam.
Sie weigerte sich, über ihr Tun nachzudenken. All das hier war viel zu ungewohnt. Aufkommende Skrupel verdrängte sie. Der Gedanke an Blut löste in ihrem Kopf Abneigung aus, aber ihr Körper signalisierte etwas ganz anderes. Als sie den verlockenden Duft des jungen Mannes wahrnahm, spannten sich bereits ihre Muskeln an. Sie spürte das körperliche Verlangen, diesen Mann zu töten, rücksichtslos sein Leben auszulöschen und sich an ihm zu stärken.
Ihre Instinkte waren stärker als ihre Skrupel. Und selbst, wenn sie diese zugelassen hätte, der Verstand mahnte sie, für Armand stark zu werden. Ohne sich zu ernähren würde sie bald kraftlos werden und sterben. Dafür hatte sie Sergej nicht um eine Verwandlung gebeten. Sie musste da jetzt durch und konnte sich ein damenhaftes Geziere nicht erlauben.
Sie war viel zu schnell, um ihrem Opfer klar werden zu lassen, was geschah. Ohne zu zögern grub sie ihre Zähne in seinen Hals, zielsicher und tödlich. Sergej hörte ihr erleichtertes Stöhnen, während sie hungrig trank. Sie musste unendlich hungrig gewesen sein. Aber Sergej hatte sie nicht ein Mal klagen gehört.
Anya schloss die Augen, als sie zubiss und verdrängte jeden Gedanken über Mord. Erstaunt registrierte sie, wie leicht ihre Zähne die Muskeln ihres Opfers durchschlugen und wie mühelos sie den zappelnden Mann halten konnte. Aber noch etwas anderes verblüffte sie viel mehr.
Kaum schmeckte sie den ersten Tropfen Blut, als sie alle Hemmungen schon fallen ließ. Der metallische Geschmack, den sie von früher kannte, war verschwunden. Es schmeckte einfach nur köstlich und nach mehr.
Mit jedem Schluck spürte sie die Kraft wie eine Flutwelle durch ihren Körper jagen. Sie erkannte, dass sie hier das gesunde, frisch durchblutete, vom Schock verdünnte Blut eines jungen Menschen in der Blüte seines Lebens trank. Es war perfekt für sie. Und sie wurde gierig.
Die sanfte Hand Sergejs an ihrer Schulter riss sie aus ihrer Euphorie. Vorsichtig löste sie ihre Zähne aus dem zerfetzten Hals und betrachtete den zuckenden Leib des Sterbenden.
Wieder kamen die Gedanken hoch. Sie hatte getötet. Ohne Nachzudenken und ohne zu zögern. Und sie würde es wieder tun, ob sie wollte oder nicht. Ihr wurde erschreckend klar, dass sie es wieder tun wollte. Über diesen Punkt hatte sie nicht nachgedacht, als sie Sergej angebettelt hatte, sie zu beißen. Nun musste sie damit leben. Sie würde es für Armand tun. Durchatmend und fest entschlossen sah sie zu Sergej auf, der sie aufmerksam musterte.
"Du hattest Recht. Es geht mir besser. Bring mich zu Armand!" verlangte sie und wischte sich den Mund ab.


Sergej duckte sich mit Anya hinter eine Hecke. Direkt vor ihnen lag das Haus Sanghieris. Mit dem Kopf deutete er auf die kleine Seitentür.
"Durch diese Tür haben sie ihn gezerrt." flüsterte er ihr zu. Anya spähte vorsichtig hinüber und zog sich sofort wieder zurück. Nachdenklich sah sie Sergej an, der selbstzufrieden grinste.
"Verstehst du jetzt? Das ist ein großes Haus. Der, dem es gehört, scheint ziemlich viel Einfluss zu haben. Auf alle Fälle aber Geld. Entsprechend hat er viel Schmarotzer um sich, die nichts lieber tun, als ihm einen Gefallen zu tun oder in seinem Dienst stehen. Da kommen wir nicht so einfach hinein." Anya runzelte die Stirn und schob trotzig das Kinn vor.
"Das wollen wir doch mal sehen!" zischte sie. Mit den Fingern versuchte sie, ihre zerzausten Haare wieder ein wenig zu ordnen, während ihre Augen das Haus nach Bewachung absuchte. Aber sogar auf dem Dach konnte sie niemanden erkennen.
"Du sagtest, es wären Wachen auf dem Dach? Ich sehe niemanden." murmelte sie und zog die Augen zusammen, um noch besser sehen zu können. Sergej zuckte mit den Schultern.
"Ich auch nicht. Aber ich könnte schwören, es sind welche da. Vielleicht nicht so viele wie gestern Nacht. Möglicherweise erwarten sie keinen Angriff." vermutete Sergej ratlos.
"Versuch noch einmal, in mir zu lesen bitte." bat sie Sergej leise. Seufzend kam Sergej ihrer Bitte nach und konzentrierte sich auf sie. Anya sah ihm fest in die Augen und wartete, bis er den Kopf schüttelte.
"Ich bin weiß Gott alt genug, um diese Fähigkeit zu beherrschen, aber du bist leer wie ein Neugeborenes." wisperte er deprimiert zurück. Anya dagegen lächelte immer breiter. Sie hatte keine Ahnung, warum das so war, aber nun sollte es hoffentlich zu einem hilfreichen Aspekt werden. Trotzdem brauchte sie noch mehr Sicherheit.
"Gut, dann tu mir weh." verlangte sie. In Sergejs Augen blitzte es kurz auf, aber er zügelte seine Gedanken. Sicher dachte sie im Augenblick weniger an die Schmerzen, die Armand ihr so gerne zufügte. Er wusste darüber Bescheid. Nicht wenige Vampire genossen diese intensive Art der Sexualität. Vorsichtig bemühte er sich, seine Fähigkeit einzusetzen, die seine Gegner vor Schmerzen lähmen konnte. Wieder stieß er auf eine Mauer, die er nicht durchbrechen konnte. Anyas Lächeln wurde noch breiter.
"Geht nicht. Ich spüre nichts." Sie schien immun gegen die Einflüsse ihrer neuen Artgenossen zu sein. Leider hatte sie als Folge dieser Immunität selbst nicht die Möglichkeit, Sergej wahrzunehmen oder irgendeinen anderen Vampir. Sie hoffte inständig darauf, wenigstens Armand zu fühlen, sobald sie ihn gesehen hatte, aber ihre Hoffnung blieb gering. Mental gesehen, schien sie ein Krüppel zu sein. Dafür waren ihre Reflexe deutlich stärker ausgeprägt als bei Sergej. Fordernd streckte sie die Hand aus. Sergej legte unruhig sein Messer in die kleine Handfläche und betrachtete sie nachdenklich.
"Ich glaube nicht, dass dein Plan wirklich gut ist." begann er wieder. Anya überging seine Zweifel.
"Besser als deiner. Du hast keinen. Und wir haben keine Zeit." Sie wandte den Kopf wieder zum Haus und atmete schnaufend durch.

1 Kommentar:

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