Dienstag, 22. März 2011

Noctambule: Das Urteil

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Sanghieri schmunzelte und musterte sie ausgiebig.
"Du liebst ihn wirklich sehr. Aber er hat meine Tochter getötet. Sein Leben ist ebenfalls verwirkt." Sergej stützte Armand noch immer mit seinem Rücken und hielt ihn an den Armen, die über Sergejs Schultern lagen. Er hatte die acht Männer nicht aus den Augen gelassen, doch nun wandte er seinen Kopf Sanghieri zu.
"Armand ist kein Mörder. Er hätte George mehrfach töten können. Stattdessen verwandelte er George und versuchte dessen Hass auszuweichen. Habt Ihr Armand gelesen?" fragte er ruhig. Sanghieri schüttelte den Kopf.
"Weit kam ich leider nicht. Ich sah nur die Verbrechen des jungen Mannes dort." Sein Kopf deutete mit einer kurzen Bewegung auf George. Dann setzte er sich vorsichtig etwas bequemer hin und hob beschwichtigend die Hände, als Anya zusammenzuckte und wachsam das Messer hob.


"Ich sah, was George dir und Armand alles angetan hat. Ihr habt allen Grund, ihn zu hassen." Anya schluckte und fragte sich, was er alles gesehen haben konnte. Da war der Besuch in Armands Haus, der Angriff auf dem Balkon und schließlich die Entführung selbst. Das alles waren Begegnungen, die Armand zumindest teilweise miterlebt hatte. Von der Vergewaltigung konnte Sanghieri nichts erfahren haben, denn Armand wusste selbst nichts davon.
Ein Schweigen trat ein. Es war eine groteske Situation. Jeder wurde von einem anderen bedroht und jeder zögerte, die Drohung umzusetzen. Allerdings auch jeder aus einem anderen Grund. Und nun ruhten fast alle Augen auf dem alten Oberhaupt und der jungen Frau, die ihr Messer ruhig in der Hand hielt, bereit zum Angriff und dennoch vor ihm hockend wie eine Bittstellerin.
Sanghieris Blick ruhte nachdenklich auf Anya. In seinen Augen lag Melancholie und Trauer. Anya erwiderte seinen Blick ruhig und wartete. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis er sich aus seinen Gedanken riss und zu reden begann.
"Ich bin alt. Zwei meiner vier Kinder sind verschwunden und wohl tot. Ich habe viel Leid erlebt, aber auch viel spannende Dinge." Er betrachtete Anya mit einem Lächeln, das sie verwirrte. Es wirkt fast liebevoll und zärtich.
"Was ich nicht erlebt habe ist diese tiefe Liebe, die du wohl in deinen jungen Jahren schon empfindest." Wieder machte er eine Pause. Anya nickte langsam. Sie begann zu verstehen. Fragend ruhte ihr Blick auf dem alten Mann.
"Ein Vater gibt ungern zu, wenn der Charakter seiner Kinder nicht gerade rühmlich ist. Ich fürchte, ich habe mich selbst in ein Bild meiner Tochter verrannt, dem sie gar nicht mehr entsprach. Ein Wunschbild. Ich nehme an, der Tod deines Armand wird meine Trauer nicht beenden. Er wird nur deine Trauer und deinen Hass auslösen. Deshalb müsste ich dann auch dich töten. Und weil dein Freund dort dies nicht zulassen werden wird, muss ich auch ihn töten." Er seufzte schwer.
"Zuviel Tod, zuviel Leid."
Diese vier Worte ließen Anya mühsam schlucken. Vorsichtige Hoffnung schimmerte in ihren Augen auf. Sollte Sanghieri tatsächlich noch nachgeben?
"Hilf mir hoch, meine Kleine. Schwerwiegende Entscheidungen fällt man nicht auf dem Boden sitzend." Er schmunzelte und streckte seine Hand aus. Anya erhob sich, steckte das Messer in ihren provisorischen Gürtel und ergriff die Hand des Oberhauptes, um ihm die nötige Stütze zu geben. Sergej zuckte leicht. Er vermutete eine Falle und traute dem Alten noch genug Kraft und Hinterlist zu, Anya zu überrumpeln.
Aber Sanghieri erhob sich nur ächzend und wacklig. Erst als Anya ihm seinen Stock reichte, fand Sanghieri zu seiner alten Würde zurück. Er hob den Kopf und sah seinen Sohn mit festem Blick an.
"Die drei können gehen!" entschied er klar. Fabrizio funkelte seinen Vater fassungslos an.
"Vater! Die Beiden sind in dein Haus eingebrochen, haben dich und mich niedergeschlagen und du willst sie einfach gehen lassen?" schnappte er empört. Sanghieri musterte Fabrizio kühl.
"Das alles geschah nur, weil ich mich in meiner verbissenen Rachsucht von diesem Burschen dort verleiten ließ!" er deutete auf George. "Ich wünsche nicht, dass du meine Befehle in Frage stellst! Die drei können gehen!" wiederholte er schneidend.
Eine angespannte Pause entstand. Die sieben Handlanger Fanbrizios waren unschlüssig. Zu tief war der Respekt vor dem Oberhaupt, doch ihr direkter Anführer war noch immer Fabrizio. Unsicher warteten sie auf dessen Zustimmung, aber ihre Waffen sanken zögernd herab. Schließlich gab Fabrizio nach und trat mit einem unwirschen Nicken zur Seite.
Anya stieß schnaufend den Atem aus und wandte sich Sanghieri zu. Eine gewaltige Last fiel von ihren Schultern und die Angst, die in ihren Eingeweiden genagt hatte, verflüchtigte sich. Gleichzeitig setzten die Schmerzen ihrer Verletzungen ein und sie fühlte sich hundeelend.
"Danke." hauchte sie und blickte mit feuchten Augen in das alte Gesicht. Aus einem Impuls heraus ergriff sie die Hand des Alten und hauchte einen Kuss auf die Fingerspitzen. Sanghieri ließ sie mit einem traurigen Lächeln gewähren.
"Ihr seid ein weiser Mann." flüsterte sie. Hinter ihr schulterte Sergej seinen Freund erneut. Ohne auf eine Antwort von Sanghieri zu warten folgte sie Sergej durch die Gasse, die von den acht Männern gebildet wurde. Immer wieder blickte sie über die Schulter und vergewisserte sich, dass sie tatsächlich nicht verfolgt wurden.
Nur die letzten Schritte aus dem Haus hastete sie Sergej hinterher. Als sie die Seitentür nach außen öffnete, begann Sergej zu rennen.
"Nichts wie weg!" zischte er Anya zu.

Sergej keuchte immer schwerer, hielt aber noch das Tempo, bis sie den Park erreichten, der in der Nähe lag. Hier hatte Sergej Anya verwandelt. Und genau an dieser Stelle neben dem Brunnen brach Sergej fast zusammen unter Armands Last.
Die Leiche des Nachtwächters war verschwunden. Man hatte ihn wohl gefunden und hastig im Laufe des Tages versucht, alle Spuren zu beseitigen. Sergej ließ Armand vorsichtig auf den kühlen Rasen gleiten und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um Armand vorsichtig etwas zu Trinken einzuflößen. Anya hockte sich auf den Boden und hielt Armands Kopf. Immer wieder strich sie zärtlich über seine Haare, während sie ihre Beine unter seinen Kopf schob und ihn so auf ihrem Schoß bettete.
Armand trank erst zögerlich, dann gieriger.
"Gut so, altes Haus. Halt einfach das Maul und trink." raunte Sergej fürsorglich. Armand hatte die Augen geschlossen. Das Wasser schmerzte dort, wo es auf seine entzündete Haut tropfte, aber es kühlte und erfrischte ihn, als er es trank. Mit jedem Schluck gierte er nach mehr Wasser. Sergej gab es ihm, bis Armand endlich erschöpft den Kopf zurücksinken ließ.
Anya schwieg, noch immer tief betroffen. Stumm strich sie über seine Haare, bemüht darum nicht seine Haut zu berühren. Armand hatte noch nicht auf sie reagiert. Nun wartete sie einfach, bis ihre Gegenwart in sein Bewusstsein sickerte. Aber es dauerte eine Weile, bis Armand begriff, dass nicht nur Sergej bei ihm war. Sein Atem stockte kurz. Er runzelte die Stirn und leckte sich über die trockenen Lippen.
Die Hand, die ihn unendlich sanft streichelte, hielt nicht inne. Lauschend drehte er den Kopf leicht. Ungläubig und mühsam versuchte er seine entzündeten Augen zu öffnen. Er bekam sie nur einen Spalt auf und sah mit starrem Blick vor sich.
"Anya?" Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. Anyas Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Ungläubige Freude lag in Armands Frage. Armand hob seine Hand und tastete nach ihren Fingern.
"Ich bin da." flüsterte Anya erstickt. Trotz des entstellten Gesichtes konnte Anya sehen, wie helle Freude ihn überflutete. Sanft schob sie ihre Finger in seine Hand. Er griff sofort zu und zwang seine Augen, sich weiter zu öffnen. Anya biss sich auf die Lippen, als sie sah, wie seine Augen leer und suchend umher irrten und eine Frage in seinem Gesicht auftauchte. Er konnte sie nicht sehen. Armand war blind.

2 Kommentare:

  1. Ente gut alles gut :)

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  2. Nööööööööööööööööööö! Das ist jetzt aber nicht das Ende, oder? Bütte, bütte nicht!! *augenaufschlag*
    Armand bleibt doch net blind. Was ist mit den Selbstheilungskräften? Und was passiert mit George und Isabell?

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