Freitag, 17. Juni 2011

Noctambule II: Wohin?

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Anya hatte sich ihren bodenlangen Umhang übergeworfen und das Haus Hals über Kopf verlassen. Die Helligkeit, an die sie nicht gedacht hatte, ließ sie erschrocken zusammenfahren, doch nachdem sie bemerkt hatte, dass es regnete und dunkle Wolken das Sonnenlicht von ihr fernhielten, lief sie los. Der Regen selbst machte ihr gar nichts aus, aber er war natürlich eine willkommene Begründung, die Kapuze tief in ihr Gesicht zu ziehen und mit gebeugtem Kopf durch die Vororte zu irren.
Die Regentropfen, die dennoch immer wieder in ihr Gesicht tropften, vermischten sich mit den Tränen. Sie weinte lautlos. Irgendetwas in ihr war wie abgestorben, leer und fühlte sich an wie eine schreckliche Wunde.

Sie achtete nicht darauf, wohin sie lief. Sie wollte einfach weg von allem und besonders von Armand, den sie so schrecklich enttäuscht hatte und der sich von ihr abgewandt hatte. Sie hatte es in seinen Augen gesehen.
Irgendwie würde sie sich alleine durchschlagen. Vielleicht konnte sie auch einfach sterben. Armand hatte einmal erklärt, dass Vampire, die nicht mehr leben wollten, rasend schnell alterten und starben. Das wäre gut.
Sie fühlte sich ungerecht behandelt und konnte Armand dennoch verstehen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, ob sie wirklich schwanger war oder nicht. Aber wenn es wirklich so war, dann würde Armand sicher kein Kind aufziehen wollen, dessen Vater sein Erzfeind war.
So schnell also hatte das Leben das Blatt gewendet. Eben noch schien eine wundervolle Zukunft sicher zu sein. Und nun war sie im schlimmsten Falle die Mutter eines Kindes, das ohne Vater aufwachsen würde. Denn für Anya war klar, dass es keinen anderen Mann geben würde in ihrem Leben.
Stumpf und ohne wirklich hinzusehen, wohin sie ging, stolperte sie durch die Straßen und war bald bis auf die Haut durchnässt. Schließlich lehnte sie sich atemlos an eine Hauswand, deren Dachvorsprung sie eine Weile vor dem Regen schützen würde. Sie versuchte, sich zu orientieren und zu erkennen, wo sie war.
Einige Fuhrwagen holperten dicht an ihr vorbei. Anya drückte sich eng an die Wand und hielt ihre Kapuze fest. Das rege Treiben hier auf der Straße weckte sie aus ihrer Lethargie. Sie musste sehr aufpassen nicht aufzufallen. Und sie sollte endlich aus dem Regen heraus kommen. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wo sie unterkommen konnte, bis sie weitere Pläne geschmiedet hatte, doch wirklich nachdenken konnte sie im Augenblick auch nicht.
Die Kutsche, die in hohem Tempo heran rollte, zwang Anya sich noch fester an die Wand zu pressen. Als sie das Gefährt betrachtete, riss sie den Kopf hoch. Die Kutsche erinnerte sie an jemanden. Schlagartig fiel ihr auch wieder ein an wen. Die Kutsche war prachtvoll verarbeitet.
Auf dem dunkelblauen Anstrich prangte ein verschlungenes, grünrotes "D". Anya erkannte es sofort wieder. Das war die Kutsche von Amanda Dubrés und sie war auf dem Weg nach Hause.
Anya stieß sich von der Wand ab und spurtete der Kutsche hinterher. Sie kümmerte sich nicht um verwirrte Menschen, die einem huschenden Schatten hinterher sahen, den sie nicht einordnen konnte. Manchmal, wenn sie langsamer wurde, konnte man ihre Gestalt erkennen. Doch die meisten Menschen glaubten, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Die anderen starrten suchend die Straße herunter. Wenn sie es erzählen würden, würde ihnen sowieso keiner glauben.

Anya wusste gar nicht genau, wo Madame Dubrés wohnte. Sie folgte einfach mühelos der Kutsche, die in ein Villengebiet abbog. Anya kannte dieses Viertel noch gar nicht. Die Grundstücke waren groß, Einzelhäuser standen zurückgesetzt in ihren gepflegten Gärten. Die Kutsche bog in eine Auffahrt ein und hielt direkt vor dem pompösen Haupteingang eines alten, sehr gepflegten Hauses.

Madame Dubrés gähnte herzhaft und zog ihren wärmenden Mantel enger um sich. Das Regenwetter tat ihr nicht gut, besonders nach dieser langen Nacht, die sie mit vollen Zügen in ihrem bevorzugten Club verbracht hatte. Nun war sie müde, ihre Knochen schmerzten und außerdem hatte sie viel zu viel Wein getrunken. Schmunzelnd dachte sie an ihren Arzt, der wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde.
Als ihre Kutsche schwankend hielt, raffte sie sich auf. Sie hatte so tief in den Polstern zurücklehnt vor sich hin gedöst, dass man sie sicher nicht gesehen hatte. Ihr Kutscher öffnete ihre Türe und hielt freundlich einen Schirm hoch, sodass sie trocken aussteigen konnte, während der Regen dem armen Mann in den Kragen tropfte. Amanda versuchte sich zu beeilen, damit er so schnell wie möglich aus seinen nassen Kleidern kam, aber ihre Körpermassen zu bewegen war mühsam und schmerzhaft.
Ächzend kämpfte sie sich aus der schwankenden Kutsche und zwang ihren Körper in eine aufrechte Haltung. Warum sie nach rechts blickte, wusste sie später auch nicht mehr. Aber sie tat es und zuckte zusammen. Die junge Frau, die an halb verdeckt an dem Stamm der uralten Eiche lehnte, kam ihr bekannt vor. Im Augenblick konnte sie die Person nicht einordnen, aber sie erkannte eine unnatürliche Blässe und die Frau zitterte am ganzen Leib.
"Du lieber Himmel." murmelte sie und schnappte sich den Schirm, den der verblüffte Kutscher sofort losließ. Amanda stapfte zu der Eiche und zuckte zusammen, als die junge Frau den Kopf etwas anhob und sie besser unter die Kapuze sehen konnte.
"Der Frechdachs!" stieß Madame Dubrés ungläubig aus und blieb stehen. Anya rührte sich nicht. Entgeistert bemerkte Amanda den tieftraurigen Gesichtsausdruck. Das junge Ding war ja völlig fertig! Madame fragte nicht lange und zögerte auch nicht weiter.
"Du bist ja völlig durchnässt! Du holst dir noch den Tod hier draußen!" blaffte sie, griff nach Anyas Oberarm und zerrte sie einfach mit sich zum Haus. Der Kutscher hastete zur Tür und stieß sie rechtzeitig auf. Madame hatte das verächtliche, gleichgültige Geräusch Anyas auf ihre Worte sehr wohl gehört. Hier musste Schreckliches geschehen sein, seitdem man sie vermisste und suchte.

1 Kommentar:

  1. Madame Dubres also? Da würde Armand sie wohl zuletzt suchen. Und den Skandal und den Klatsch den diese Dame auslösen könnte, wenn es soweit ist, wäre sicherlich eine riesige Lawine.

    Aber ich frage mich auch gerade ob Anya weiß, dass Gichtkranke scheusslich schmecken? :D

    Liebe Grüße
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.