Sonntag, 19. Juni 2011

Kurzgeschichte: Hurrikan - Teil 2

Auch hier draußen herrschte Totenstille. Kein Lufthauch bewegte sich, kein noch so weit entfernter Vogel war zu hören und nicht einmal die immer anwesenden Zikaden lärmten. Das Scharren ihrer Schuhe auf dem Boden wirkte unnatürlich laut, doch als sie stehen blieb, verstummte auch das Knirschen ihrer Schritte.
Stumm und mit fasziniertem Grusel betrachtete Jessy die weite Ebene, die sich vor ihr ausbreitete. Nichts glich mehr dem Bild, das sie so viele Jahre lang geliebt hatte. Der Himmel war von einer dichten Wolkendecke bedeckt.
Doch obwohl es früher Morgen sein müsste, konnte Jessy kein Sonnenlicht erkennen. Nicht einmal natürliches Tageslicht war zu sehen. Doch es war keineswegs dunkel. Die Wolken leuchteten in einem fast giftigen Orange und verfärbten sich an den Unterseiten über ein tiefes Rot bis hin zu einem unnatürlichen Violett.

Noch nie hatte Jessy solch ein Farbenspiel beobachtet. Die Landschaft konnte das seltsame Licht kaum richtig reflektieren. Das nasse Gras der Steppe wirkte dunkelbraun, der nasse Asphalt der Straße schillerte in Orange-rot-violett und selbst die Haut ihrer Hände, die sie entgeistert betrachtete, wirkte ungesund rot.
Sie schnupperte, doch statt dem gewohnten erdigen Geruch nach einem reinigenden Regen konnte sie absolut nichts riechen, so sehr sie es auch versuchte.
Mühsam löste sie den Blick von der schnell über sie hinwegrasenden Wolkendecke und drehte sich. Dachpappe, Haustrümmer, Reklameschilder, ausgerissene Bäume und Autoteile waren in der Steppe verstreut. Wie stumme Warnungen ragten die Trümmer nach oben, entgeistert starrte sie auf einen Reisebus, der fast senkrecht in den Boden gerammt stehen geblieben war.


Jessy wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Wo einst ihr Haus gestanden hatte, lagen nur noch Einzelteile. Das Dach war abgerissen und vom Sturm mitgerissen worden, die Wände zusammengebrochen und was noch hätte stehen können, war von einem Jeep zertrümmert worden, der vom Sturm genau auf ihr Haus geworfen worden war.
Mit offenem Mund blickte sie auf die Scherben ihres Lebens und versuchte zu verarbeiten, dass dieser Sturm alles zerstört hatte, was sie mit Peter verbunden hatte. Alles bis auf den Bunker hinter ihr.
Blinzelnd rief sich Jessy zur Ordnung und versuchte sich zu erinnern, wie die Stimmung nach dem Hurrikan in ihrer Kindheit gewesen war. Doch sie konnte sich nicht erinnern, diese schreckliche Stille erlebt zu haben. Ihr fiel die Schrift auf ihrem Laptop wieder ein und sie wirbelte herum.
Die Tür in den Bunker stand offen, das Kerzenlicht schimmerte unruhig flackernd heraus, aber sie konnte ihr Laptop von hier aus auf dem Bett nicht erkennen. Sie wollte nicht mehr dort hinein. Aber sie brauchte Gesellschaft und das Gefühl des Schutzes unter anderen Menschen. Hastig zog sie ihre dünne Jacke enger um sich und lief einfach los.

Der Weg auf der einsamen Straße schien endlos lang zu sein. Die wenigen Meilen in den nächsten Ort schienen sich ewig hinzuziehen und schnell schmerzten Jessys Füße in den flachen Sandalen. Sie war solche Fußmärsche nicht mehr gewohnt.
Immer wieder musste sie Steinbrocken, umgekippte Masten oder umgekippte Autos umrunden. Doch als sie die ersten Häuser des Ortes sah, atmete sie auf. Eilig näherte sie sich dem Ortsrand, doch bald wurden ihre Schritte langsamer.
Kaum ein Haus stand noch. Wände waren eingestürzt, Veranden abgerissen, Carports zerstört und Dächer einfach nicht mehr da. Die Hauptstraße war kaum noch zu erkennen unter all dem Schutt und durcheinander gewirbelten Autos.
Müll lag überall verbreitet, Glasscherben knirschten unter ihren Schritten und mehrmals stolperte sie über Drähte oder Kabel, die aus irgendwelchen Trümmern ragten.
Ungläubig lauschte Jessy und sah sich um. Auch hier regte sich kein Luftzug. Kein Geräusch war zu hören, keine Menschenseele ließ sich blicken. Sie verstand das alles nicht. Hier hätten Hektik und verzweifelte Menschen sein müssen, Mütter, die ihre Männer oder Kinder riefen, Männer, die bereits begannen, die Schäden zu beseitigen, Hunde und Katzen, die herumstreunten, Wasserfontänen von abgerissenen Hydranten oder knisternde Stromkabel.
Nichts von alldem wies auf ein Lebenszeichen hin. Jessy begann zu frösteln.
"Hallo? Ist hier jemand?" Ihre Stimme verhallte ohne eine Antwort. Wieder und wieder rief Jessy, während sie über die Trümmer kletterte. Vor einem zerbrochenen Schaufenster blieb sie schließlich atemlos stehen und stierte leer und ratlos auf die durcheinander gewirbelten Fernsehgeräte, Küchenwaren und Computer des Elektrowarengeschäfts.
Gerade wollte sie sich abwenden, als einer der Bildschirme zu flackern begann. Blinzelnd starrte Jessy auf den Bildschirm, der sich orange verfärbte. Ihr fiel ein, dass Peter die Farbe Orange sehr geliebt hatte und sie schimpfte mit sich selbst. Werd jetzt nicht hsyterisch! befahl sie sich, konnte jedoch nicht wegsehen.
GEH!
Jessys Unterkiefer klappte herunter. Die Buchstaben waren einfach dort aufgetaucht. Wie auf ihrem Laptop. Panisch blickte sie sich um.
"Peter?" Schrieb er ihr aus dem Jenseits? Konnte das sein? Aber warum schrieb er keine ganzen Sätze und keine liebevollen Grüße? Konnte er das vielleicht nicht? Wohin sollte sie denn nur gehen?
"Peter!" Wild schrie sie nun den Bildschirm an, aber die drei Buchstaben veränderten sich nicht.


Jessy konnte nicht mehr denken. Panisch drehte sie sich um und begann zu rennen. Stolpernd lief sie die Hauptstraße entlang, immer wieder die Trümmer mit den Augen absuchend. Sie stolperte, fiel auf die Knie und raffte sich mit blutenden Händen und zerrissener Hose wieder auf. Sie stieß sich den Kopf und ihre dünne Jacke verfing sich an einem Trümmerhaufen, doch Jessy riss sich weinend los und hastete weiter.
Als sie Jerome sah, schluchzte sie vor Erleichterung auf. Der alte Mann saß wie immer in seinem Schaukelstuhl vor seinem Haus auf der Veranda. Die Überdachung war nicht mehr da und von seinem Haus die obere Hälfte einfach verschwunden. Jerome musste über seinem Unglück eingeschlafen sein, denn sein Kopf war seitlich gekippt und der zahnlose Mund offen, aber darüber dachte sie nicht nach.
Laut rufend lief sie auf ihn zu und winkte immer wieder. Als sie schließlich atemlos vor ihm stand, traute sie ihren Augen nicht. Jeromes Augen waren geöffnet und starrten gebrochen ins Leere. Jessy begann zu frieren. Ihre Knie schlotterten und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Sie wollte sich gerade abwenden, als seine toten Augen sich plötzlich bewegten und direkt auf sie richteten. Sein Gesicht verzog sich zu einer bösartigen Fratze, als er den zahnlosen Mund verzog.
"GEH!" Es war seine Stimme, wenn auch irgendwie lallend und dunkler. Jessy zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe rückwärts die Stufen hinunter gefallen wäre. Stolpernd fing sie sich und sah, dass seine Augen sie zu verfolgen schienen.
Sie rannte kopflos einfach weiter, ohne auf den Weg zu achten und als sie sich noch einmal zu Jerome umsah, verfing sich ihr Fuß und sie stürzte der Länge nach in eine Pfütze aus Regenwasser und Öl. Die plötzliche Nässe brachte sie ein wenig zur Besinnung, doch als sie sich umsah, um den Grund ihres Sturzes zu erkennen, schrie sie gellend auf.
Norma, die junge Frau von der Tankstelle, lag genau vor ihr. Ihre Beine waren unnatürlich verrenkt, ihr bleiches Gesicht wirkte schmerzverzerrt. Jessy konnte den Blick nicht von dem Zaunpfahl wenden, der sich durch Normas Brustkorb gebohrt hatte. Ihr eigener Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, während sie in der Pfütze saß und die junge Frau anstarrte.
Als Norma plötzlich die Augen öffnete und sie ansah, zuckte Jessy zusammen.
"Du sollst endlich gehen!" schrie Norma sie an. Jessy schoss auf die Beine und rannte weiter. Das Entsetzen hatte sie nun voll im Griff. Blind vor Tränen stolperte sie durch die Straßen des Ortes, nur von einem Gedanken beseelt: Wohin? WOHIN??
Sie rannte weiter als ihr Körper eigentlich die Kraft dazu hatte. Ihre Lungen brannten, ihr Hals schmerzte, ihr Keuchen war pfeifend. Sie sah nicht mehr auf die Leichen, die ihren Weg pflasterten. Sie sah auch nicht, dass der Himmel immer dunkler wurde und die Wolken sich inzwischen blutrot verfärbt hatten. Dann wurde es endlich schwarz vor ihren Augen.


Jessy schlug die Augen auf und presste sofort die Hände auf ihr hämmerndes Herz. Ungläubig sah sie sich um und setzte sich auf. Direkt vor ihr befand sich das große Portrait von Peter und ihr selbst, das sie vor Jahren hatten malen lassen. Verwirrt spürte Jessy ihr Bett unter sich und erkannte die Lieblingsbettwäsche von Peter. Sie war zuhause!
Voller Erleichterung sackte sie zusammen und kicherte leise vor sich hin. So einen schrecklichen Traum hatte sie noch nie gehabt. Gott sei Dank war sie aufgewacht! Noch immer klopfte ihr Herz, aber das würde sich gleich beruhigen.
Als sie sich aus dem Bett schob, sagte ihr ein Blick auf die Uhr, dass es weit nach Mittag war. Sie hatte unendlich lang geschlafen! Verwundert darüber tapste sie in ihr Bad und schaute dort in den Spiegel, während sie den Wasserhahn aufdrehte.
Minutenlang starrte sie in den Spiegel, unfähig etwas denken zu können. Ihr Gesicht war über und über mit schwarzen Wassertropfen verschmutzt. Selbst in ihren Haaren klebte das Zeug und ihr ungläubiger Finger verschmierte nun auch noch den Dreck. Jetzt erst erkannte sie ihre aufgerissenen Hände und starrte sie entgeistert an. Dass das Wasser aus dem Hahn plätscherte, hörte sie schon nicht mehr.
Sprachlos hob sie den Blick wieder und betrachtete ihr Spiegelbild erneut. Fassungslos sah sie, wie die Augen ihres Spiegelbildes sich plötzlich veränderten, der Blick wurde hart und bösartig. Jessy klammerte sich an das Waschbecken und beobachtete, wie sich ihr Mund verzog und Speichel aus den Mundwinkeln tropfte.
"GEH ENDLICH!" schrie das Spiegelbild sie an. Jessy taumelte aus dem Bad, als hätte man sie vor die Brust gestoßen. Sie stieß mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand und stolperte. Ihre haltsuchende Hand verfehlte den Handlauf der Treppe. Jessy stürzte, überschlug sich und krachte mit gebrochenem Genick auf den Boden. Sie war sofort tot.
In der Küche hob Peter den Kopf, zwei Tassen Kaffee in der Hand und sein Lächeln erstarrte.
"Jessy?"

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