Sonntag, 19. Juni 2011

Noctambule II: Keine Lügen bitte!

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Anya starrte lange ins Feuer des Kamins und nippte immer wieder an dem wohltuenden Tee. Er wärmte sie von innen und schmeckte wunderbar. Allerdings roch sie auch das tosende Blut der alten Dame. Es regte nicht gerade ihren Appetit an, denn sie konnte die Krankheiten riechen und das Alter. Lieber steckte sie ihre Nase in die Duftwolke des Tees in ihrer Hand.

Sie überlegte verzweifelt, was sie hierher getrieben hatte. Die burschikose Frau, die über die Gesellschaft herrschte und Ruhm oder Untergang besiegelte, wirkte in diesem Augenblick eher wie eine fürsorgliche Amme, deren Lebenserfahrung zu groß war, um noch von irgendetwas erschüttert zu werden. Vielleicht war es gerade das, was Anya nun brauchte.
"Ich… ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte." nuschelte sie entschuldigend in die Tasse hinein und schielte vorsichtig zu Madame hinüber. Die fächelte sich Luft zu und musterte sie besorgt nickend.
"Gute Entscheidung, zu mir zu kommen. Geht es dir besser? Ist es warm genug?" Anya nickte, gerührt von Madames Sorge.
"Gut, dann erzähl mir alles. Von Anfang an. Und keine Lügen bitte, ich würde sie ohnehin bemerken. Und Schluss mit der Brudergeschichte, Kind. Das habe ich sowieso nie geglaubt!" Madames Stimme klang streng und unbewusst schob sich Anya tiefer in ihre Decken. Erschrocken musterte sie die Grande Dame und hielt sich erneut an der Tasse fest.
Sie hatte es gewusst und dennoch geschwiegen? Trotz dieser Vermutung hatte sie sogar befürwortet, dass Anya in die Gesellschaft aufgenommen worden war?
Anyas Überraschung verdrängte kurz ihre momentane Situation, doch dann blinzelte sie und wagte ein zögerndes Lächeln. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, ihre Zähne nicht zu zeigen. Es würde schwierig werden, ihre Verwandlung auf Dauer zu verbergen. Noch wusste sie nicht wie. Aber wenn es nicht mehr ging, würde sie einfach heimlich verschwinden müssen, was ihr jetzt bereits schon leid tat.
"Ich.. Armand und ich.." Sie stockte. Wie sollte sie das erklären? Sie war ja nicht verheiratet und Madame würde bodenlos entsetzt sein.
"Ihr seid ein Liebespaar, jaja." Madame wedelte mit ihrer beringten Hand. "Sonst hättest du ja nicht versucht, das geheim zu halten. Aber so etwas erschreckt eine alte Frau nicht mehr. Das habe ich selbst hinter mir." Sie kicherte und versank kurz in Erinnerungen.
Anya staunte. Ganz allmählich glaubte sie, Madames Gedankengänge zu begreifen. Aber der Gedanke an Armand und sein letzter, tief enttäuschter Blick versetzten ihr erneut einen schmerzhaften Stich. Sie zog die Brauen zusammen und versuchte, sich nur auf das lodernde Feuer im Kamin zu konzentrieren. Sie spürte, dass Madame sie beobachtete, ihr aber Zeit ließ. Die Geduld der alten Dame war offenbar grenzenlos.
"Ich wurde entführt." Der Satz war leise und schnell über Anyas Lippen gekommen, schien aber die Wirkung eines Peitschenknalls zu haben. Madames fächelnde Bewegung stockte. Wie erstarrt schaute sie Anya an, den Mund leicht geöffnet und wartete auf weitere Informationen. Anya wählte ihre Worte mit Bedacht.
"Er.. er ist ein.. alter Feind von Armand. Er wollte Armand durch meine Entführung in eine Falle locken. Er wollte ihm weh tun, indem er mich.. indem er.. als er.." Anya bekam kein weiteres Wort mehr heraus. Die Szene in der Kutsche war wieder allzu lebhaft. Fast spürte sie Georges Gewicht auf sich. Die Tasse zitterte wieder in ihren Händen und sie warf Madame einen hilflosen Blick zu, der mehr erzählte als Worte es hätten tun können.

Die Stille im Raum lastete wie Blei auf Anya. Gerne hätte sie das Schweigen gebrochen, aber sie wusste nicht, was sie erzählen sollte. Das Knistern der Holzscheite im Kamin klang wie kleine Explosionen und das monotone Trommeln der Regentropfen auf den Fensterscheiben begann sie müde zu machen. Oder war es der Tee?
Madame hatte sie ganz offensichtlich verstanden. Empörung, Wut und Mitgefühl wechselten sich in ihrem Gesichtsausdruck ab. Aber schließlich besiegte die Wut Madames Selbstbeherrschung.
"Dieses Schwein! Verbrecher! Oh, wir werden ihn ins Gefängnis bringen, verlass dich darauf. Gib mir seinen Namen. Den Rest erledigen andere für mich. Er wird nie wieder das Tageslicht sehen!" versprach sie bebend vor Wut und Rachsucht. Anya senkte das Gesicht und hätte sich am Liebsten hinter der Tasse versteckt. Wenn Madame nur wüsste, dass er das Tageslicht gar nicht sehen wollte! Wenn alles nur so einfach wäre, wie Madame es sich dachte.
Amanda Dubrés fing sich wieder.
"Wie bist du frei gekommen? Wo ist Armand?" Anya sank noch tiefer in die Kissen und hielt sich an der inzwischen leeren Tasse fest.
"Armand und sein Freund haben uns aufgespürt. Armand verfolgt den Mann." sie hoffte, dass diese Auskunft genügte und fand, dass dies der Wahrheit am nächsten kam, ohne zuviel zu erzählen. Madame war noch in ihrem Zorn und bemerkte Anyas Zögern nicht. Für sie war es normal, dass eine junge Frau nach solch schrecklichen Erlebnissen nicht viel reden wollte. Schon gar nicht darüber. Sie klappte heftig ihren Fächer zu.
"Gut. Oder nicht gut! Warum bist du alleine hier? Warum bringt dich Armand nicht in Sicherheit?" Anya spürte den Kloß in ihrem Hals wachsen. Tränen drückten sich gegen ihren Willen heraus und immer wieder versuchte sie mit tiefen Atemzügen, ihre Selbstbeherrschung zu halten. Trotzdem kam das Schluchzen in ihr hoch und begann sie zu schütteln.
Das verzweifelte Weinen der jungen Frau hielt Madame nicht mehr im Sessel. Verblüffend schnell kam sie hoch und zog Anya in ihre Arme. Ohne darüber nachzudenken grub Anya ihr Gesicht gegen den üppigen Busen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

1 Kommentar:

  1. Natürlich war es eine gute Entscheidung zu Madame Dubres zu gehen. Jedenfalls aus sicht von Madame Dubres. So ist man haunah dran an den neuesten Skandalen, die das Städtchen zu bieten hat.

    Schöne Doppeldeutigkeit übrigens: "Er wird nie wieder das Tageslicht sehen." Wenn die wüsste, mit wem sie sich da anlegt :)

    Aber einen Vorteil hat die Sache zweifelsohne. Madame Dubres ist die erste, und bislang einzige aus Marseille, welche die Wahrheit um die Vorgänge kennt, die den Tod es Grafen zur Folge hatten. Und sie glaubt Anya. Irgendetwas sagt mir, dass sie ihre Rolle noch zu spielen haben wird.

    LG
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.