Freitag, 17. Juni 2011

Kurzgeschichte: Hurrikan - Teil 1

Hallo liebe Leser,

einmal mehr gibt es heute eine Kurzgeschichte zu bestaunen. KayGee hat sich die Mühe gemacht uns mit ein bisschen Grusel und einer Prise Horror zu erfreuen. Die Geschichte ist für eine Veröffentlichung im ganzen zu lang. Aber keine Sorge, ihr müsst nicht allzu lang warten. Am Sonntag gibt es, wieder um 10:00 Uhr, den zweiten und letzten Teil der Geschichte zu lesen.

Ich hoffe, die Geschichte findet Anklang und es wagt auch der ein und andere einen Kommentar darunter zu setzen.

Liebe Grüße

Joe Nevermind
Euer Geschichtenblogger


Jessy blickte besorgt aus ihrem Küchenfenster auf die tiefe Wolkenfront, die sich näherte. Das Landschaftsbild vor ihr hätte faszinierend sein können, wäre es nicht so bedrohlich gewesen. Normalerweise liebte sie den Blick aus ihrer kleinen, einfachen Küche auf die weite Landschaft.

Sie kannte jeden Grashalm hier in dieser Gegend und wusste schon am frühen Morgen, wie das Wetter an diesem Tage werden würde. Oft konnte sie sogar das Wetter für die nächsten Wochen vorhersagen.

Jessy lebte seit vierundzwanzig Jahren an diesem abgeschiedenen kleinen Fleck. Bis vor zwei Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Peter, der ein paar Meilen weiter in dem kleinen Ort eine Autowerkstatt geführt hatte.
Sein Geschäft war zwar nie besonders gut gelaufen, aber es hatte für ihr bescheidenes, glückliches Leben gereicht und ihr erlaubt, ihre Kinderbücher zu schreiben und selbst zu illustrieren. Der einzige Luxus war ein inzwischen veraltetes Laptop, das Peter ihr einmal geschenkt hatte, damit sie nicht mehr so mühsam auf der Schreibmaschine tippen musste.


Vor zwei Jahren hatte Peter in seiner Werkstatt einen Herzinfarkt erlitten und da niemand bei ihm war, kam jede Hilfe zu spät. Jessy weigerte sich, ihr kleines, windschiefes Häuschen zu verlassen. Sie lebte von der Lebensversicherung, die Peter heimlich für sich abgeschlossen hatte, damit seine Frau versorgt war, wenn er einmal sterben würde und schrieb noch immer Kinderbücher.
Jessy brühte ihren Kaffee auf und betrat mit dem Kaffeebecher in der Hand die schmale Veranda. Sofort schlug ihr der Wind entgegen und zerrte an ihren Kleidern. Fröstelnd lehnte sie sich an eine der Stützstreben und nahm einen Schluck Kaffee ohne den Blick von der Wolkenfront zu lösen.
Wie schmutzige Watte türmten sich die Wolken weit nach oben in die Sphäre.
Die dunkelgraue Unterseite der Wolkendecke aber wirkte glatt und flach, als würde der stürmische Wind sie wieder und wieder abschleifen und sie konnte die grauen Regenschleier erkennen, die in ungeheurer Breite auf das Land herunterfielen.
Im Radio hatten sie gestern bereits eine Unwetterwarnung durchgegeben und schließlich von einem heftigen, orkanartigen Sturm gesprochen. Jessy war nicht besonders beunruhigt gewesen, es gab hier oft Stürme. Was sie nun allerdings mehr als beunruhigte war die Richtung, aus der dieser Sturm nahte. Das war völlig gegen die Natur, die sie seit so vielen Jahren beobachtet hatte. Aus dieser Richtung war noch nie ein Sturm gekommen, sondern immer von der entgegengesetzten Seite.
Doch noch etwas passte nicht in das Bild und weckte eine dunkle Erinnerung an ihre Kindheit. Die Ränder der Wolken bogen sich nach oben und mit zusammengekniffenen Augen konnte Jessy beobachten, wie der Wind Wolkenfetzen abriss.
Als sie erneut einen Schluck Kaffee trank, erinnerte sie sich wieder. Suchend wanderten ihre Augen am Horizont entlang und tasteten die Unwetterfront ab. Ihr Herz begann zu hämmern, während der Wind Tränen in ihre Augen trieb. Jetzt erst erkannte sie die gigantische Form der Wolken wirklich. Wie eine riesige fliegende Untertasse wölbte sich die Form zu einem Kreis mit spiralförmigen Ausläufern, als würde ein kreiselnder Sog die Wolken aus dem Umfeld anziehen.
Jetzt ärgerte sich Jessy, kein Fernsehen mehr zu haben und das Radio nur in seltenen Fällen einzuschalten. Was sich hier näherte, war ein ausgewachsener Hurrikan und sicher waren ständig Warnungen durch alle Medien gelaufen. Jetzt blieb nicht mehr viel Zeit.
Ihre grauen Haare waren durch den stürmischen Wind aus dem geflochtenen Zopf gerutscht, doch darum kümmerte sich Jessy nicht. Eilig stellte sie die Kaffeetasse ab und begann, die Fensterläden zu schließen. Auf der Wetterseite – die ja eigentlich gar keine sein durfte – war das geradezu Schwerstarbeit, weil der Wind fast bösartig versuchte, ihr die Läden aus der Hand zu reißen.
Schwer atmend sicherte sie die Läden und lief ins Haus. Mit einer frischen Tasse Kaffee setzte sie sich vor ihr altes Radio und begann, einen Nachrichtensender zu suchen. Doch egal, welche Frequenz sie auch wählte, überall war nur das atmosphärische Knistern und Rauschen zu hören, das alles andere überlagerte. Nicht einmal Wortfetzen waren zu hören.
Stirnrunzelnd suchte Jessy die ganze Bandbreite ab während der Wind nun fast wütend an den Fensterläden rüttelte. Peter hatte diesen Weltempfänger geliebt und über alle Maßen gelobt. Es war beinahe unmöglich, gar nichts zu empfangen und so untersuchte sie das Gerät, setzte neue Batterien ein und schaltete es ein und aus. Doch alle Versuche änderten nichts an der Tatsache, dass sie von der Außenwelt abgeschnitten war.


Jessy gab ihre Versuche auf und rief sich zur Ordnung. Jetzt waren andere Dinge wichtig und sie nahm sie in Angriff. Immer hatte sie Peter mit seinen Vorsichtsmaßnahmen belächelt. Zum ersten Mal nun war sie dankbar darüber und schickte ein stummes “Danke” in den Himmel, während sie das Haus erneut verließ und zu dem kleinen Bunker lief, den Peter vor zwölf Jahren gebaut hatte.
Der kleine Schutzraum war natürlich unterirdisch und eine Rampe führte zu der Tür hinunter. Peter hatte an fast alles gedacht. Unbeirrt hatte er trotz ihrer Hänseleien ein großes Bleischild anfertigen lassen, das über dem Raum unter einer meterdicken Erdschicht lag und die Insassen vor atomaren Katastrophen schützen sollte.
Sogar Strom-, Wasser-, und Telefonleitungen hatte er gelegt. Es waren noch so viele Dinge geplant gewesen. Oft hatte Peter abends über seinen Plänen für einen Notausgang, einem Versorgungsraum und eine bessere Belüftungsanlage gebrütet und sie hatte ihn ausgelacht, weil er die Tür und den Boden mit Leuchtfarbe bestreichen wollte.

Nun konnte Jessy den Bunker aufschließen und einfach das Licht einschalten. Prüfend betrachtete sie die Regale, die sie seit zwei Jahren nicht mehr kontrolliert hatte. Konserven, Instantkaffee und Milchpulver, Toilettenpapier, Müllbeutel, Verbandszeug und Plastikgeschirr stapelten sich wohlsortiert vor ihren Augen.
Peter hatte an alles gedacht. Ein kleiner Elektroherd stand an der Wand, in einer Nische versteckte sich hinter einem kleinen Vorhang ein Chemieklo und da der Platz für ein Doppelbett nicht ausgereicht hatte, war ein Etagenbett aufgebaut worden.
Jessy betrachtete mit wehmütigem Lächeln das kleine Bücherregal an der Wand. Peter hatte damals alle Erstausgaben ihrer Kinderbücher sorgfältig dort aufgereiht. "Sie dürfen nicht verloren gehen. Nichts von dir darf verloren gehen." hatte er ihr damals ernst erklärt.
In Jessys Augen sammelten sich Tränen. Wie sehr sie ihren Peter vermisste! Seine kleinen verrückten Eigenarten, sein Knurren, sein liebevolles Lächeln. Wie schrecklich leer ihr Leben ohne ihn geworden war. Seufzend riss sie sich selbst aus ihren Erinnerungen, strich eine Strähne aus dem Gesicht und mahnte sich zur Eile. Sentimental werden konnte sie später noch genug. Jetzt war noch viel zu tun.
Jessy schleppte sämtliche angebrochenen Vorräte aus der Küche in den Bunker und suchte die wichtigsten Papiere zusammen. Immer wieder schaute sie aus dem Küchenfenster. Die Sturmfront war erschreckend nahe gerückt. Nun setzte auch noch heftiger Regen ein. Hastig holte sie ihr Laptop und das Radio, warf sich die Regenjacke über und rannte zum Schutzraum.

Die Wolken verdunkelten bereits den Himmel so stark, dass sie froh über das Licht war, das aus der offenen Tür strahlte. Aber es wurde Zeit, sie zu schließen, denn der Regen wurde vom Wind regelrecht hinein gedrückt.
Atemlos zog sie die Tür zu und verriegelte sie. Dann setzte sie sich seufzend auf das untere Bett. Durch den Luftschacht heulte der Wind gespenstisch und der Regen trommelte gegen die massive Metalltür. Niemand würde nach ihr sehen. Kinder hatte Peter nicht zeugen können und ihre Schwester den Kontakt zu ihr schon vor Jahren abgebrochen.
Jessy straffte die Schultern und griff nach ihrem Laptop. Nun denn, wenn sie schon die nächsten Stunden hier verbringen sollte, konnte sie auch endlich das nächste Kapitel beenden. Eifrig begann sie zu tippen.

Das Heulen im Luftschacht war fast nicht auszuhalten. Heftiger Wind drückte gegen die Tür und ein schreckliches Poltern und Krachen hatte sie zusammenfahren lassen. Träge richtete sie sich auf und klappte ihr Laptop auf, um die Uhrzeit zu sehen, denn an eine Uhr hatte Peter nicht gedacht.
Sechs Stunden waren vergangen. Das Auge des Hurrikans hatte sie nicht bemerkt, was bedeutete, dass sie wohl am Rand des Sturms war, der mit noch stärkerer Wucht draußen zu wüten schien. Jessy seufzte und betrachtete lustlos die Essvorräte.
Gerade hatte sie beschlossen, einfach etwas Wasser zu trinken, als das Deckenlicht zu flackern begann. Dann ging es aus. Lediglich der schwache Schimmer des Bildschirms ihres Laptops verteilte noch ein schummriges Licht.
Die Lampe schaltete nun auf Akkubetrieb um, doch der Lichtschein blieb schwach denn der voreingestellte Dämmermodus würde den Akku schonen.
Dumpf hörte sie das Anlaufen des Dieselaggegrats und atmete auf. Das Licht flackerte wieder hell auf, dann begann der Motor zu stottern und setzte aus. Erneut schaltete die Lampe auf Akkubetrieb um, das Aggregat hustete und spuckte und gab dann endgültig keinen Laut mehr von sich. Jessy seufzte und suchte neben dem Regal nach der kleinen Tür, die zu dem altmodischen Notstromgenerator führte.
Der Raum war nicht größer als die monströse Technik. Ratlos starrte sie auf die Bedienelemente. Hätte sie sich doch nur besser gemerkt, was Peter damals so eifrig erklärt hatte! Aber damals war sie nie auf die Idee gekommen, einmal ohne ihren Peter hier zu sitzen. Technik war einfach nicht ihr Ding.
Jessy schloss die kleine Tür wieder, prüfte das Telefon und legte es wieder hin. Natürlich war es tot. Unruhig streckte sie sich wieder aus, denn ändern konnte sie gerade gar nichts. Aber der fehlende Strom vermittelte ihr ein hilfloses Gefühl.


Sie musste eingeschlafen sein. Der Raum war in absolute Dunkelheit getaucht. Blind starrte sie in die Richtung der erloschenen Deckenlampe. Offenbar hatte der Akku nicht lange gehalten. Ihr fielen Peters mahnende Worte wieder ein: "Wir müssen den Akku regelmäßig austauschen. Wenn sie alt werden, halten sie nicht mehr." Sie hatte es vergessen.
Was sie geweckt hatte, konnte sie erst nicht erkennen. Doch dann wurde es ihr klar. Es herrschte Totenstille. Aufgeregt setzte sie sich auf und lauschte. Absolut nichts war zu hören. Keine Regentropfen, kein Wind, kein Donnern und Getöse. Um sicher zu gehen, dass sie nicht taub war, schnalzte sie mit der Zunge und war erleichtert.
Dennoch wagte sie noch nicht, hinaus zu gehen. Auch wenn erneut einige Stunden vergangen waren, konnte jetzt gerade das Auge über ihr sein und es wäre lebensgefährlich, nun hinaus zu gehen. Wartend blieb sie im Dunkel sitzen und verfluchte den Stromausfall. Sie hatte vergessen, ihr Laptop zuzuklappen und nun war es ausgegangen.
Sie tastete nach dem Telefon und hatte es gerade gefunden, als das Laptop plötzlich zum Leben erwachte. Der piepsende Startton ließ sie verblüfft innehalten und ihr Laptop anstarren. War der Strom wieder da? Warum brannte dann das Licht nicht? Vorsichtig tastete sie sich zur Tür und knippste den Lichtschalter um.
Es blieb dunkel, während ihr Laptop nun hochfuhr und auf dem Desktop die letzten Zeilen ihres Kapitels aufleuchteten. Grübelnd starrte sie auf ihren Rechner und suchte eine Erklärung. Vielleicht schaltete es sich selbst ja nach einer gewissen Zeit aus, wenn es nicht benutzt wurde. Sowas sollte es ja geben, auch wenn ihr das noch nie vorher aufgefallen war.
Jessy tastete suchend durch die Regale, um eine Kerze und Streichhölzer zu finden. Dann wurde der kleine Raum endlich in gemütliches Kerzenlicht getaucht. Wenn das Laptop schon lief, konnte sie auch weiter schreiben.
Sie zog es auf ihren Schoss und las die letzten Zeilen durch, als der Cursor sich zu bewegen begann. Verblüfft folgte sie dem kleinen schwarzen Strich in ihrem Programm bis zur letzten Zeile und sah, wie sich langsam Buchstaben formten.
ES IST VORBEI
Keuchend stieß sie das Laptop von ihrem Schoß und sprang auf. Sie hatte die Tastatur nicht einmal berührt! Fassungslos starrte sie auf das Laptop, das schief auf dem Bett lag.
DU KANNST JETZT GEHEN
Jessy taumelte rückwärts gegen das Regal mit den Konserven und sah sich hektisch in dem engen Raum um. Aber sie war alleine. Niemand war hier und niemand hatte die Tasten gedrückt, das hatte sie genau gesehen.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie wollte hier nur noch raus. Ganz egal, ob es vorbei war oder nicht, hier drin wollte sie nicht mehr bleiben. Ihre zitternden Finger rutschten mehrmals vom Riegel der Tür, ehe sie ihn endlich zurück schieben konnte.
Noch einmal warf sie einen Blick auf den Bildschirm, doch noch immer leuchteten ihr die fremden Worte entgegen. Mit einiger Kraftanstrengung drückte sie die schwere Tür auf und rannte die nasse Rampe nach oben, wo sie sofort erstarrt stehen blieb.

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