Mittwoch, 11. Juli 2012

Noctambule III: Der Blick des Raubtieres

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Die beiden Frauen wurden von Bernadette in die Küche geschleust und dazu angehalten, sich zu setzen und leise zu reden, damit ihr Sohn nicht geweckt würde. Sowohl Miriam als auch Anya hielten sich an die Anweisung und blieben so leise, wie irgend möglich. Kaum hatte Anya sich gesetzt, als das Baby in ihrem Arm unruhig wurde und ein kleines Fäustchen erbost aus dem wärmenden Tuch reckte.


Anya lächelte liebevoll und schaukelte ihren Sohn leicht, während ihre Augen die Küche überflogen und sie zu überlegen schien, wo sie das Kind stillen könnte. Bernadettes Blick wurde weich, als sie das Kind entdeckte und ein kurzes Lächeln huschte über das faltige Gesicht.
"Du kannst es ruhig hier tun. Wir sind ja unter uns." meinte sie und holte zwei Becher aus gebranntem Ton hervor, in die sie mit einer Kelle Wasser aus einem Eimer schöpfte. Sie stellte die Becher vor ihre Gäste und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
"Ihr seht schrecklich aus. Berichtet, was euch geschehen ist. Habt ihr Hunger?"
"Nein." "Ja!"
Miriams Zustimmung war deutlich lauter und energischer als Anyas Ablehnung. Sie senkte beschämt den Kopf und betrachtete ihre schmutzigen Hände.
"Verzeiht, Madame. Ich wollte nicht unhöflich sein." murmelte sie, erntete jedoch ein amüsiertes Tätscheln auf der Schulter.
"Junge Menschen haben immer Hunger. Und junge Mütter müssen besonders darauf achten, dass sie gutes Essen bekommen." erklärte sie, während sie sich den Schränken zuwandte und dadurch nicht sah, dass die beiden Frauen sich kurze Blicke zuwarfen. Anya hatte bereits in dieser Nacht gejagt, wobei sie sich so sehr beeilt hatte wie noch nie. Das Gefühl, ihren kleinen Sohn bei Miriam zurückzulassen, hatte ihr nicht gefallen und sie dazu getrieben, so schnell sie konnte, wieder zurückzukehren.
Nun stellte Bernadette zwei Teller aus Holz auf den Tisch, schnitt von einem Laib Brot einige Scheiben ab und begann, grobe Scheiben von einer für Miriam verlockend duftenden Wurst abzutrennen. Nur wenige Sekunden schaffte sie es, sich zurück zu halten, dann fiel sie über das Essen her wie eine Verhungernde. Anya hingegen sah nur zu und zeigte keinerlei Anzeichen, selbst zuzugreifen. Stattdessen öffnete sie ihr Hemd soweit es nötig war und legte Raoul fürsorglich an ihre Brust. Sofort verstummte das unwirsche Meckern des Kleinen.
Bernadette konnte den Blick kaum von dem Kind abwenden. Sie zog einen Hocker an den Tisch und setzte sich so, dass sie das Gesicht des Babys so gut es ging sehen konnte.
"Du hast es unterwegs bekommen?" vergewisserte sie sich nun obwohl ihr erfahrener Blick bereits erkannt hatte, dass das Kind nicht älter als zwei Tage sein konnte. Anya nickte und lächelte leicht.
"Ja. Mitten in einem Gewitter unter einem schützenden Felsüberhang." erklärte sie und senkte das Gesicht über ihr Kind. Bernadette blickte fragend zu Miriam, die verzückt in die Wurst biss und nun eifrig nickte.
"Stimmt. Es ist ihr erstes Kind und keine von uns wusste, was wir tun müssen. Bei Gott, ich habe noch nie so eine gute Wurst gegessen. Darf ich?" sie schielte auf die restliche Wurst auf dem Tisch und griff herzhaft zu, nachdem die alte Frau schmunzelnd genickt hatte.
"Nur zu. Mein Sohn macht sie und es ist die Beste der ganzen Stadt." verkündete sie mit unüberhörbarem Stolz, doch sie kam zu dem wichtigeren Thema zurück.
"Woher kommt ihr?" Bernadettes alten Augen entging nicht, dass Miriam kurz unsicher zu Anya sah. Die junge Mutter blickte nun auf und musterte Bernadette mit einem Blick, der ihrer alten Gastgeberin unter die Haut ging. Sie las darin Schmerz, Sehnsucht und Angst. Doch noch etwas lag in diesem Blick, etwas Lauerndes, Hungriges und dennoch ungemein Betörendes. Bernadette blinzelte kurz, hielt dem Blick aber mit klopfendem Herzen stand. Diese beiden Frauen waren mehr als ungewöhnlich. Irgendetwas war nicht richtig, doch noch kam sie nicht drauf, was sie störte.
"Wir kommen von einem Bauernhof weiter nördlich von hier. Wir wurden letzte Nacht überfallen. Unsere Männer sind dort geblieben, um .. um das Haus zu verteidigen, aber sie schickten uns fort." Ihre Stimme war leise, stockte kurz und wurde bei den letzten Worten brüchig. Bernadette spürte eine Gänsehaut an ihrem Körper. Was die junge Frau da berichtete, war mehr als schrecklich. Es war bekannt, dass Bauernhöfe, die weiter außerhalb lagen, von Räuberbranden immer wieder überfallen wurden.
Doch diese Stimme! Diese Frau hatte eine Stimme, die unter die Haut ging wie ihr Blick zuvor. Eine Erinnerung an alte Geschichten regte sich in ihr, doch sie kam nicht auf den Zusammenhang.
"Gütiger Gott, dann war das euer Hof! Wir haben den Feuerschein gesehen! Heilige Mutter Gottes, wie schrecklich! Wer hat euch überfallen?" Sie sah von einer zur anderen, doch diesmal war es Miriam, die antwortete.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob unsere Männer noch leben." Bernadette schüttelte kummervoll den Kopf. Wenn sie diese Geschichte nur glauben konnte. Sie hatte den Feuerschein in der letzten Nacht gesehen, doch konnten diese beiden Frauen ihn ebenfalls einfach nur gesehen und darauf ihre Geschichte aufgebaut haben. Wieder schaute sie auf die Hände der jüngeren Frau und senkte den Blick auf ihre alten Hände.
Dieses Mädchen war nie im Leben eine Bäuerin! Das waren feine Hände, gepflegt und nicht gewohnt, grobe Arbeit zu machen. Diese Hände hatten noch nie Wäsche gewaschen oder grobes Werkzeug gehalten.
Und die andere? Diese Augen.. und diese Stimme.. erneut schielte sie auf Anya und das Kind, senkte aber den Blick sofort wieder. Dieser makellose Körper und die wunderschöne, reine Haut waren für eine Bäuerin alles andere als normal. Bernadette hatte in ihrem langen Leben genug feine Herrschaften gesehen. Fast alle puderten ihr Gesicht, um besonders blass zu wirken und damit zu unterstreichen, dass sie es nicht nötig hatten, sich in ehrlicher Arbeit an der frischen Luft die Haut bräunen zu lassen. Diese Frau hier aber war anders. Alles an ihr war anders.
Das Herz der alten Frau setzte plötzlich für zwei Schläge aus, bevor es mit rasender Geschwindigkeit zu klopfen begann. Die alten Geschichten, die man immer wieder gehört und mit abwertendem Lächeln abgewinkt hatte. Sie stimmten! Mit steigendem Entsetzen starrte sie auf die blasse, schöne Frau ihr gegenüber und sah, wie sie auflauschend den Blick hob und sie betrachtete.
Sie hatte Bernadettes Schrecken bemerkt. Das Lauern in dem Blick der jungen Mutter wirkte bedrohlich. Bernadettes Hände pressten sich gegen das tobende Herz. Ihre Augen weiteten sich und ein tiefes Keuchen kam aus ihrer Kehle.
Sie bemerkte Miriams verständnislosen Blick nicht, sondern stierte Anya mit blankem Entsetzen an.
"Ihr seid keine Bäuerinnen.. beide! Aber du.. du bist.. du bist…" Sie sah, wie Anyas Augen sich veränderten und hätte schwören können, ein kurzes Aufleuchten gesehen zu haben. Nun aber starrte sie in den wachsamen, hungrigen Blick eines Raubtieres.

1 Kommentar:

  1. Arme Bernadette - Das hätte sie besser für sich behalten.

    Natürlich hat sie recht. Diese Mädchen sind keine Bäuerinnen und was Nadja ist, wagt sie besser nicht auszusprechen.

    Ich hoffe, sie bezahlt ihre plötzliche Eingebung nicht mit dem Leben. Auch wenn ich wenig Hoffnung habe, dass es anders kommen könnte.

    Aber auch aus der Situation der Mädchen heraus ist das unheimlich schwierig. Sie haben die Frau belogen und waren dabei so ehrlich wie sie nur konnten. Aber was hätten sie sagen sollen? "Dies ist eine Comtesse auf der Durchreise, sie will mit hrem Kerl durchbrennen. Und ich bin Vampirin. Wenn sie vielleicht ein Glas Wasser und einen Schluck Tomatensaft hätten?"

    Hoffentlich muss Miriam da nichts mit ansehen. Auch wenn ihr bewusst ist, was Anya und die anderen tun um zu überleben, so wird es sicher noch das letzte Stück ihrer Unschuld nehmen, wenn mitansehen muss, wie ihre Freunde tun, was die Verbrecher mit ihrer Mutter taten.

    Liebe Grüße
    Joe

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