Freitag, 21. Oktober 2011

Noctambule II: Schach mit Sanghieri

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Sergej hatte die restliche Nacht am Bett neben Armand verbracht und darüber nachgedacht, wo und wie er mit der Familie nach Anya suchen konnte. Er selbst bezweifelte inzwischen, dass sie sich wirklich noch in der Stadt befand, aber er brachte es auch nicht übers Herz, seinem Freund den letzten Hoffnungsschimmer zu nehmen.
Es war schwer gewesen, bei dem Kampf zwischen Armand und George ruhig zu bleiben und abzuwarten. Doch hatte er sofort begriffen, dass Armand von einem einzigen Ziel getrieben wurde und sich selbst in eine Art Trance versetzt hatte.
Nur so ließ sich das fehlende Schmerzempfinden erklären. Sergej wurde allmählich klar, wie tief Armands Gefühle zu Anya sein mussten, denn bei dem Gedanken, dass George Miriam das alles angetan hätte, wurde ihm heiß und kalt vor Wut. Er konnte Armand verstehen und war noch immer beeindruckt von dem Ausgang des Kampfes.


Jetzt aber lag Armand verletzt im Bett und konnte nicht weiter suchen. Er musste das übernehmen und wollte es Miriam erklären, sobald es ging. Sie hatte schon diese Nacht auf ihn verzichten müssen und würde sich Sorgen machen. Bei Tagesanbruch ließ er sich von Maurice ablösen und verschwand in sein abgedunkeltes Zimmer, um sich auszuschlafen.
Als die Sonne unterging, schlug er die Augen wieder auf und war sofort hellwach.

Nach hunderten von Jahren funktionierte seine innere Uhr so genau, dass er stets pünktlich bei Anbruch der Dunkelheit erwachte. Er stand sofort auf, schnappte sich ein Handtuch und ging in den Hof, um sich Wasser aus dem Brunnen zu holen. Dabei stieg er mit bösem Grinsen über ein Bündel blutbefleckter Kleidung. Das war alles, was von George übrig geblieben war.
Er zog sich direkt am Brunnen aus und kippte sich mehrere Eimer kaltes Wasser über den Kopf, bis er sich sauber fühlte. Noch halb nass zog er sich wieder an und rubbelte sich die Haare trocken, während er zurück ins Haus ging, um nach Armand zu sehen. Maurice fing ihn vor der Tür ab.
"Monsieur Sartous befindet sich auf dem Weg der Besserung. Signore Saghieri hat sich angeboten, diese Wache zu übernehmen." erklärte er müde. "Er sagte, er sei zu alt, um durch die Stadt zu kutschieren. Er wolle hier die Stellung halten." Sergej nahm die Worte mit einem Nicken zur Kenntnis und sah Maurice nachdenklich nach. Sollte er dem Alten wirklich seinen Freund anvertrauen? Was wäre denn, wenn der alte Mann plötzlich die Chance nutzen und Armand einfach tötete? Vielleicht hatte er ja nur auf so eine Chance gewartet?

Sergej knurrte leise, senkte den Kopf und betrat das Zimmer, bereit, den Alten einfach hinauszuwerfen. Doch was er sah, verblüffte ihn sehr. Armand hatte sich im Bett aufgesetzt und die Beine bequem übereinander geschlagen. Sein nackter, muskulöser Oberkörper war frisch verbunden und zwar so fachkundig, dass Armand durch den Verband gestützt vorsichtige Bewegungen machen konnte.
Die tiefe Wunde in Armands Gesicht war bereits verschorft. Eine dunkelrote Linie zog sich vom Kiefer bis zum Jochbein über die linke Gesichtshälfte und verlieh Armand ein verwegenes Aussehen. Sergej wusste, dass diese Wunde schon am nächsten Morgen nur noch eine blassrote Linie und am nächsten Abend völlig verschwunden sein würde.
Antonio Sanghieri saß neben dem Bett, ein Bein übergeschlagen und wie immer eine Hand auf seinem Gehstock. Beide grinsten ihn zufrieden an und Sergej hatte das Gefühl, eine vertraute Runde zu stören.
"Dir scheint es ja deutlich besser zu gehen." meinte er lächelnd und entspannte sich zusehends. Armand nickte und befühlte seinen Verband.
"Maurice ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Der kann irgendwie alles. Und er hat mich den ganzen Tag bemuttert wie eine Glucke." meinte er, doch seine Stimme klang noch müde und erschöpft. Sergej lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme.
"Freut mich zu hören. Wie geht es jetzt weiter?" verlangte er zu wissen. Armand runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
"Meine Söhne sind bereits unterwegs und werden wie besprochen die Stadt weiter durchkämmen. Natürlich müssen wir überlegen, wo sie außerhalb der Stadt noch unterkommen könnte. Das wird sehr schwer werden." übernahm Sanghieri die Antwort und erhielt von Sergej ein zustimmendes Nicken.
"Kann sie sich in deinem alten Haus verkrochen haben?" hakte er nach. Armand schüttelte den Kopf. "Die Wachen sind abgezogen. Ich habe mehrfach dort nachgesehen und ich kenne jedes Versteck dort." Sergej schnalzte unwillig mit der Zunge.
"Ich werde meine Route noch abgehen. Aber erst will ich zu Miriam und ihr erklären, warum sie auf mich verzichten muss." er setzte ein schiefes Grinsen auf und warf einen Seitenblick zu dem alten Mann.
"Wenn ich dich alleine lassen kann mit diesem alten Gauner." Alle drei in diesem Raum wussten, wie sein Satz gemeint war. Sanghieri schmunzelte amüsiert, Armand warf einen vorsichtigen Blick auf den Alten und Sergej sah fest zu Armand. Er hatte inzwischen die Überzeugung gewonnen, dass Armand sich würde wehren können, wenn Sanghieri ihn angriff. Doch wollte er die Bestätigung hören.
"Das kannst du, mein Freund. Signore hat einen guten Wein mitgebracht und ein interessantes Käsegebäck. Wir werden ein wenig Schach spielen." Nun grinste auch Sergej und stieß sich erleichtert von der Wand ab.
"Dann hab wenigstens genügend Anstand zu verlieren." verabschiedete er sich grinsend und hörte noch beim Schließen der Tür die Stimme des Alten.
"Untersteh dich und verliere absichtlich. Ich bin zwar alt, aber noch nicht verblödet. Das kommt noch."

1 Kommentar:

  1. Sanghieri scheint Armand wirklich vollständig verziehen zu haben.

    Insgesamt scheint sich ja die Lage zu beruhigen. Auch wenn Anya noch gefunden werden muss. Fragt sich, wie schnell das nun gehen wird. Die Herausforderung ist ja durchaus keine leichte. Das wissen auch die vielen Sanghieri die da sind.

    Aber die Idee außerhalb der Stadt zu suchen könnte ja durchaus schon mal ans Ziel führen.

    Interessant finde ich übrigens Sergejs Besonnenheit. Auch er hatte mit George ja die ein und andere Rechnung offen. Wenn auch lange nicht eine solche, wie Armand. Nichtsdestotrotz, hat er sich unglaublich beherrscht und zurückgehalten. Das ist schon bemerkenswert.

    Und was der Tag wohl zwischen Armand und Sanghieri bringt? Ich halte die Furcht, er könnte ihn töten für unnötig. Sanghieri hatte bereits die Chance, Armand zu töten. Mehrfach. Und er würde das ganz gewiss nicht tun, wenn Armand verletzt ist. Er würde entweder einen offenen Kampf suchen oder eine Hinrichtung befehlen. Ein hinterhältiges Meucheln eines Verletzten ist sicherlich nicht sein Stil.

    Also, viel Spaß beim Schach - Achja: Maurice ist cool :D

    LG
    Joe

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