Sonntag, 16. Oktober 2011

Noctambule II: Das Fieber steigt

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Tee aus Weidenrinde schmeckte widerlich bitter. Selbst nachdem Joscelin den Sud noch einmal verdünnt und mit etwas Honig gesüßt hatte, verzog sie selbst beim Probieren noch das Gesicht. Aber sie vertraute auf das, was Anya ihr gesagt hatte und trug das heiße Getränk vorsichtig zu Anya.


Die Nacht war ruhig gewesen, doch Anyas Fieber wollte nicht sinken. Erst nach der zweiten Tasse Tee schien sich Anya ein wenig zu entspannen, denn die Schmerzen schienen etwas nachgelassen zu haben.
Joscelin setzte sich immer wieder lange Zeit neben Anya und betrachtete sie grübelnd. Sie konnte nicht fassen, wie schnell sich die Risse auf Anyas Handrücken wieder geschlossen hatten. Noch immer war die Haut unschön gerötet und auch wenn die offenen Stellen nun verschorft waren, wirkte Anya entstellt.
Joscelin hatte sogar im Sitzen neben Anya geschlafen, allerdings unruhig und sie war immer wieder aufgewacht. Am frühen Morgen nun verlangte die Erschöpfung ihren Tribut. Das junge Mädchen konnte kaum noch die Augen offen halten und schließlich gab sie den Kampf auf. Sie rollte sich auf dem Fußboden vor Anyas Bett zusammen und sank in einen tiefen Schlaf, in dem ihr Körper endlich begann, das Adrenalin abzubauen und den Schock des Erlebten zu verarbeiten.

Als sie wieder aufwachte, schrak sie auf und sah sofort nach Anya. Die junge Frau lag unverändert gerade ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände flach neben sich auf dem Bett. Joscelins vorsichtiges Fühlen auf der Stirn bestätigte ihr, was sie schon gesehen hatte. Das Fieber war wieder angestiegen.
Auf der Lippe kauend überlegte sie. Anya alleine zu lassen widerstrebte ihr so sehr, dass sich alles in ihr zusammen zog. Doch musste sie unbedingt neue Verbandstoffe besorgen und vielleicht konnte sie ja auf dem Markt den einen oder anderen Tipp von einer Marktfrau bekommen, was sie noch gegen das Fieber tun konnte.
Es half alles nichts, sie musste es wagen, Anya alleine zu lassen. Das warf die nächste Frage auf. Sollte sie Anya wecken und ihr Bescheid sagen? Es war doch gut, dass sie schlief! Aber wenn sie aufwachte und nicht wusste, wo Joscelin war, würde sie vielleicht in Panik geraten? Schweren Herzens beugte sie sich über die Kranke und flüsterte leise.
"Ich laufe zum Markt und besorge gute Sachen für dich." Anya behielt die Augen geschlossen, aber sie nickte und ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.
"Gut." murmelte sie nur und hob die Hand, um die Wange des Mädchens zu streicheln. Sofort schmiegte Joscelin ihre Wange in die heiße Hand und drückte schließlich einen Kuss auf die Handfläche.
"Nicht weglaufen." versuchte sie zu scherzen. Anyas Mundwinkel zuckten wieder und das kurze Lächeln baute Joscelin mehr auf als alle Worte. Sie drückte sanft den Oberarm von Anya und verließ sie dann, um sich richtig anzuziehen. Ihren Rock vom Vortag hatte sie von den Blutflecken gereinigt und draußen aufgehängt. Hier, in ihrem neuen Zuhause konnte sie ja im Unterkleid herumlaufen, aber draußen wollte sie doch wenigstens halbwegs vernünftig herumlaufen.
Dann holte sie die eingelegten Fische aus dem Sud und verstaute sie in einer Tonschale, die sie vorsichtig in ihren Korb stellte. Mit arg schlechtem Gewissen zog sie Anyas Geldbeutel hervor und nahm einige Münzen heraus. Es fühlte sich an wie Diebstahl und sie nahm sich vor, alles wieder zurückzuzahlen, aber sie wusste nicht, wie viel Geld sie brauchen würde und wollte nicht ohne ihre Einkäufe zurück kommen.

Bevor sie ging, steckte sie noch den Dolch ein, den sie inzwischen sauber gemacht hatte. Der Gestank am Ufer traf sie wie ein Schlag. Angewidert lief sie an der Stelle vorbei, an der sie die Leichen notdürftig verscharrt hatte und nahm sich vor, später noch viel mehr Erde darüber zu werfen. Sie blieb auf dem Weg wachsam und konnte ihn nicht mehr so genießen, wie am Vortag.

1 Kommentar:

  1. Joscelin ist noch so jung und dabei doch schon so tapfer. Anya kann sich glücklich schätzen.

    Ob die Dinge, die sie auf dem Markt gesagt und besorgt bekommt nun wirklich helfen, Anya das Leben zu retten kann getrost bezweifelt werden. Aber es hilft auf jeden Fall ihre eigene kleine Seele zu retten.

    Ich frage mich, ob die Selbstheilung der Vampire immer mit so viel Fieber einher geht. Sicherlich hat Anya eine fiese Verletzung abbekommen, dennoch scheint ihre Selbstheilung ja zu funktionieren. Ihre offenen Stellen verschorfen bereits. Sie ist wohl einfach insgesamt sehr mitgenommen.

    Ein schöner Gedanke ist noch, dass unsere beiden Protagonisten nun beide in ihren Betten liegen und gepflegt werden. Und zwar beide auch noch mit nahezu der gleichen Verletzung. Hoffen wir, dass dies nicht ihre einzige Verbindung bleiben wird.

    Liebe Grüße
    Joe

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