Freitag, 7. Oktober 2011

Ein Märchen

Dies ist eine Fortsetzungsgeschichte. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Übersicht Nadja

Mary gruselte sich unheimlich. Nadja saß ganz locker, fast natürlich auf dem Bett neben ihr und berichtete von den ungeheuerlichsten Greueltaten die man einer Frau antun konnte. Und es war nicht wie im Unterricht. Damals hatten sie ganz sachlich darüber gesprochen. Sicherlich war die Stimmung etwas bedrückt gewesen, aber mit der Gewissheit, dass Nadja genau das erlebt hatte stellten sich Mary einfach nur die Haare auf und immer wieder erschauerte sie und musste sich kurz schütteln.

"Wie bist du da rausgekommen?", flüsterte sie fast. Nadja hatte schon mit der Frage gerechnet und sich eine Antwort überlegt, die sie ohne zu lügen geben konnte, aber eben auch ohne Arramoa zu erwähnen. "Man hat mich verkauft.", ließ sie erstmal platzen. "Verkauft?", krächzte Mary ungläubig. Doch Nadjas ruhige, ja fast stoische, Miene zwang sie es ernst zu nehmen. "Ja, Mary, verkauft. Verkauft wie ein Meerschweinchen bei Walmart. Verkauft wie eine Sklavin.", setzte Nadja nach.

Mary wurde augenblicklich übel. Hatte sie eben noch gedacht, ein Bericht über Vergewaltigungen und Zwangsprostitution wären die Spitze dessen gewesen, was man Nadja angetan hatte, so krampfte sich nun in ihr alles zusammen. "Ich hätte nicht gedacht, dass es soetwas noch gibt.", brachte sie nur hervor. "Hätte ich auch nicht gedacht. Bis es soweit war, dass ein paar Geldbündel im Wert von 25.000 Euro auf dem Tisch lagen und mein 'Boss' mir erklärt hat, ich würde nun jemand anderem gehören."

Nadja sprach weiterhin sehr ruhig. Die Einnerungen an den Puff und die Zeit bei Dimitri und Boris waren schmerzhaft. Aber sie brachten sie keineswegs so aus der Fassung, wie sie zuerst befürchtet hatte. Dafür konnte sie an Marys entsetztem Gesichtsausdruck sehen, dass es ihr wohl auch nicht leicht fiel. Und so wertlos sie sich damals auch gefühlt hatte, als man sie verkauft hatte, so wehmütig dachte sie gerade an das Ereignis zurück. Der Augenblick tiefster Demütigung war tatsächlich die Fahrkarte zum Glück gewesen. In Gedanken nahm sie sich vor die Nummer von Tom und Thorsten herauszufinden um sich bei ihnen beiden noch einmal zu bedanken.

"Und bei dem Neuen konntest du dann weglaufen?", mutmaßte Mary nach ein paar Augenblicken des Schweigens. "Das brauchte ich nicht. Einer der Freunde von Joe ist ein sehr mächtiger Mann. Außerdem ist er auch sehr reich. Er beauftragt jemanden, Mädchen wie mich zu kaufen und an einen sicheren Ort zu bringen. Danach gibt er der Polizei Tips und lässt die Organisation hochgehen. Vor einer Weile habe ich in Deutschland beim Prozess gegen die Verbrecher ausgesagt. Man hat sie quasi alle eingesperrt." Mary schüttelte sich einmal mehr. "Das klingt ein bisschen wie im Märchen.", flüsterte sie halb ungläubig, halb ehrfürchtig.

Der erste Mal, seit sie angefangen hatten über das Thema zu reden, spielte ein Lächeln um ihre Mundwinkel. "Ja. Das war es für mich.", bestätigte sie andächtig. Mary griff nach Nadjas Hand. Allerdings war sie selbst es, die Trost brauchte. Nadja schien in dieser Sekunde wirklich ausgeglichen zu sein. Sacht nahm Nadja ihre Freundin halb in den Arm. "Ich hoffe, du verstehst, warum ich damit nicht von Anfang an hausieren gegangen bin. Und ich hoffe auch, dass du es niemand erzählst, wie du es mir versprochen hast." Mary nickte stumm und starrte duch die Wand ins Unendliche.

1 Kommentar:

  1. Da wird nun aus der pragmatischen, unerschütterlichen Mary, die für (fast) alles bisher irgendeine Lösung fand, ein kleines Mädchen, das mit riesengroßen, erschreckten Augen in die böse, völlig fremde Welt schaut, die sich da vor ihr auftut. Ein Stückchen Erwachsen werden? Willkommen im Leben, kleine Mary.
    Es ist eben nicht alles rosig, sicher und lieb. Autodiebe sind nicht die schlimmsten Verbrecher und das, was man im Fernsehen sieht oder im Unterricht hört, kann tatsächlich jeden Moment bei einem selbst passieren.
    Und Nadja? Sie hat hoffentlich gerade gemerkt, dass sie eine Art Vergangenheitsbewältigung betreibt und sicherer, stärker und selbstbewusster aus dieser Ecke heraus kann, in die sie sich selbst gestellt hat. Vielleicht merkt sie nun endlich auch, dass ihre Vergangenheit nicht nur für sie selbst schrecklich war, sondern auch für andere Menschen.. dass sie ein Recht darauf hat, das Erlebte als Schlimm zu empfinden und dass nicht SIE Schuld an allem hat. Sie darf den Kopf hoch tragen (nur nicht die Nase ;-) ).

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