Mittwoch, 13. Juli 2011

Noctambule II: Rückblick - Die weiße Rose

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II



Als George verschwunden war, schossen ihre Augen wild hin und her. Sie konnte nicht glauben, dass er wirklich fort war. Zu oft war er wie aus Zauberei wieder vor ihr aufgetaucht. Er war ein Dämon und jede Sekunde erwartete Elsbeth panisch, dass er wieder da war und ihren Retter von hinten angreifen würde.
Der große Mann beugte sich zu ihr und half ihr auf die Beine. Sie wollte etwas sagen, ihn warnen, doch ihre Stimme versagte und sie brachte nur kläglich winselnde Laute heraus. Ihre Augen bewegten sich weiter unruhig, sie stierte herum und merkte nicht, wie ein Speichelfaden aus ihrem Mundwinkel lief.


Ihr Retter betrachtete sie, schüttelte seufzend den Kopf und strich über ihre Haare.
"Er hat dich zerbrochen, nicht wahr?" raunte er leise. Elsbeth hielt inne und stierte ihn zitternd an. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Sie hatte wieder vergessen, was er gesagt hatte. Der Teufel würde wieder kommen und sie beide töten. Angestrengt versuchte sie ihn zu warnen, doch ihre Stimme klang fremd und die Worte waren ein hilfloses Gebrabbel.
"Psssst." Das Geräusch von Armand beruhigte sie tatsächlich ein wenig. Sie ließ zu, dass er sie auf die Arme hob und mit ihr durch den Wald lief. Sie hielt sich nicht fest, sondern starrte weiterhin um sich oder nach hinten zurück. Ab und zu bemerkte sie seinen nachdenklichen, grübelnden Blick auf sich, aber das kümmerte sie nicht. Trotzdem beruhigte sie sich nach einer Zeit wieder und blieb stumm.
Schließlich hielt er an und legte sie auf ein weiches Stück Moos an einem Baum. Es duftete herrlich und erinnerte sie an einen Pilz. Interessiert fragte sie sich, wo sie ihren Korb stehen gelassen hatte und schalt sich selbst eine dumme, vergessliche Gans. Der fremde Mann setzte sie so, dass sie sich anlehnen konnte und hockte sich vor sie. Als sie in seine schwarzen Augen blickte, schien sie den Boden unter sich zu verlieren. Das schwebende Gefühl war schön. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, in seinen Armen zu liegen und sich anzuschmiegen.
"Wenn ich dich zurückbringe, wirst du den Rest deines Lebens eine geistlose Hülle sein, gepflegt von deinen Schwestern und nicht ernst genommen bei deinen Geschichten." Seine Stimme war so schön! Sie wollte nicht, dass er aufhörte zu reden und hob ihre Hand, um seine Wange zu streicheln. Vielleicht würde er dann weiter sprechen.
"Das Beste, was ich für dich tun kann, fällt mir schwer. Aber es wird für dich das Schönste sein, was du jemals erlebt hast." Sie wusste nicht, was er meinte. Er sollte einfach weiter reden. Sie hing an seinem Blick wie hypnotisiert und nahm nur am Rande wahr, wie er seinen Mund unnatürlich weit öffnete. Der helle Ton kam wieder in ihrem Kopf zurück und übertönte alles andere.
Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals und einen kurzen, stechenden Schmerz. Doch der zählte nicht mehr. Plötzlich tat ihr gar nichts mehr weh. Ihr Körper verlor den Gleichgewichtssinn und ihre Hände klammerten sich an seine Arme. Wohlige Wärme durchflutete ihren Körper und ein ganz unbekanntes Schaudern schoss von den Haarwurzeln zu den Zehen.
Es wurde dunkel vor ihren Augen, aber das war nicht schlimm. Sie hatte die Augen sowieso schließen wollen, um diese herrliche Wonne besser genießen zu können. Reine, sinnliche Lust ergriff sie und ihr Körper bäumte sich ein letztes Mal auf. Dann verebbte dieses Gefühl wieder, aber gleichzeitig wurde sie unendlich müde und ließ sich glücklich lächelnd in den ewigen Schlaf fallen.

Armand ließ Elsbeth an einem wild wuchernden Rosenbusch mit weißen Rosen zurück. Er hatte sie hingelegt, ihr lächelndes Gesicht gestreichelt und eine der Rosen zwischen ihre blutleeren Hände gelegt. Man würde Elsbeth finden und fassungslos das Lächeln betrachten, mit dem die junge Nonne dieses Leben trotz der durchgemachten Qualen verlassen hatte. Sie musste Gott begegnet sein, anders konnte man sich dieses Phänomen nicht erklären. Der Bruder der Verstorbenen würde den Rosenstock ausgraben und zu züchten beginnen. Dieser Rosenstock würde den Namen Elsbeth tragen.
Armand konnte nicht wissen, dass er eine seltsame Legende erweckt hatte, die sich über hunderte von Jahren in dem Kloster halten würde, auch dann noch, nachdem die Nonnen längst nicht mehr dort lebten sondern von Benediktinermönchen abgelöst worden waren. Die weiße Rose würde immer dann in der kargen Zelle eines Mönches auftauchen, wenn die Stunde des Mönchs gekommen war.
Der Mönch würde demütig die Rose küssen, sich auf seinen Tod vorbereiten und am nächsten Tag von seinen Brüdern gefunden werden. Die weiße, zarte Blüte erhielt den Beinamen der Todesbotin und würde fortan auch bei Beerdigungen als verspätete Beigabe die Gräber schmücken.

1 Kommentar:

  1. Ui - Das ist aber wirklich eine schöne Legende!

    Die arme Elsbeth hat ihren Ausflug mit dem Leben bezahlt. Aber wenigstens auf eine bessere Weise, als von George, bis in den Tod durch den Wald gejagt zu werden.

    Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Mitschwestern rätseln, was dem armen Mädchen passiert sein könnte. Sie werden tausende Ideen haben und Gerüchte in die Welt setzen. Und die Wahrheit wird vermutlich nicht dabei sein.

    Aber zurück zu noch unschöneren Themen: George und Armand haben ganz Europa als Spielplat - Mehr noch: Sie könnten sich bis nach Asien fortbewegen ohne eine beschwerliche Schiffsreise auf sich nehmen zu müssen.
    Und da tauchen die BEIDE im selben verlassenen Fleckchen mitten in den Alpen auf? Die hätten Europa einfach teilen sollen.

    Liebe Grüße
    Joe

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