Freitag, 15. Juli 2011

Noctambule II: Die schreckliche Wahrheit

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II


Sergej rührte sich nicht. Wie eine Statue saß er an ihrem Bett und hielt sie in ihrem Arm, auch nachdem sie erschöpft zusammengebrochen war. Sie hatte ihrem Schmerz freien Lauf gelassen. Er wusste nicht, wie lange er dort bereits saß. Es war auch nicht wichtig. Besorgt schaute er auf ihr starres Gesicht hinab. Sie hielt noch immer seinen Arm so fest umklammert, als wäre er die Rettung für eine Ertrinkende.
Dass sie an einem Tag beide Elternteile verloren hatte und auch noch ihr Haus, musste für sie ein Alptraum sein.

Ihr bisheriges behütetes Leben war an einem Tag komplett zerstört worden. Kalte Wut auf George breitete sich in Sergej aus.
In den letzten Stunden hatten sie leise miteinander gesprochen. Sergej hatte ihr den Ablauf geschildert, aber immer wieder abgebrochen, weil sie von Weinkrämpfen geschüttelt worden war. Sie hatte noch nicht annähernd die Hälfte von alldem überhaupt wirklich verstanden sondern litt einfach noch unter dem Schmerz ihres Verlustes.
Zwischendurch schlief sie erschöpft einige Minuten ein, aber Sergej rührte sich nicht vom Fleck. Der Hunger meldete sich immer stärker. Miriam hatte sein Aussehen gar nicht richtig registriert. Noch immer war er zerzaust, voller Ruß, zerrissen und schmutzig. Während der Nacht hatten sich seine Schürfwunden und Prellungen regeneriert. Bis auf eine schmerzende Rippe spürte er kaum noch etwas von dem Kampf. Aber sein Körper verlangte nach Nahrung. Der Heilprozess hatte viel Energie verlangt.
Um so deutlicher witterte er Miriams süßes Blut. Ihre Verzweiflung und Trauer, ihre Angst vor der Zukunft und vor der Hilflosigkeit versüßten es mit jeder Stunde mehr und es kostete Sergej enorme Anstrengung, sich zurück zu halten. Immer wieder starrte er auf den schlanken Hals. Er musste sich nur herunter beugen. Seine Selbstbeherrschung wurde immer mühsamer. Es widerstrebte ihm, sie aus ihrem Leben zu reißen, obwohl er sich eine Zukunft mit ihr noch immer vorstellen konnte.

Als sie erneut die Augen aufschlug, sah sie ihn eine ganze Weile einfach nur stumm an. Sergej erwiderte ihren Blick. Ihre braunen Augen waren gerötet und angeschwollen. Aber Sergej hatte das Gefühl, sich darin verlieren zu können. Vorsichtig streichelte er ihre Wange.
"Ich verstehe immer noch nicht, warum der Mann Maman gebissen hat." hauchte sie dann. Sergej hatte diese Frage befürchtet.
Die ganze Zeit schon hatte er über eine Antwort nachgedacht. Natürlich konnte er sie belügen wie Maurice bisher auch. Aber Maurice hatte keinerlei Ansprüche zu stellen und wurde dafür bezahlt, zu tun, was man ihm auftrug. Man musste ihm keine Gesellschaft leisten und durfte erwarten, dass er sich in sein Zimmer oder in die Küche zurückzog, wenn man sich im Wohnzimmer aufhielt.

Mit Miriam war das schon deutlich anders. Er wollte und suchte ihre Gesellschaft. Wie sollte er ihr begründen, dass er nie mit ihr bei schönstem Sonnenschein spazieren gehen oder ein Picknick abhalten konnte? Wie könnte er ihr erklären, dass er oft nachts unterwegs sein würde ohne dass sie vor Eifersucht rasend würde? Und wie würde er bei ihr durchhalten, wenn ihn die Gier so schüttelte wie jetzt gerade? Auf Dauer war das nicht machbar.
Seine Entscheidung schmerzte ihn. Er musste damit rechnen, dass sie sofort schreiend davon laufen und ihre Geschichte jedem erzählen würde. Er wollte sie dann nicht aufhalten, so sehr ihm das auch weh tat. Er würde Armand und Anya finden, sie warnen und ihnen raten, Marseille so schnell es ging zu verlassen, ehe Miriam jemanden finden würde, der ihr glaubte.
"Weil er ein Vampir ist." antwortete er sanft. Miriam vergaß vor Schreck und Staunen ihren Kummer. Mit offenem Mund und tellergroßen Augen starrte sie ihn an.
"Ich mag gerade keine Witze." murmelte sie leicht erbost und wandte das Gesicht von ihm ab. Sergej schüttelte den Kopf.
"Ich würde darüber keine Witze machen. Es ist wirklich so. Er hat sie getötet. Aber ich kann dir versichern, dass sie schnell und ohne Schmerzen starb." Miriams gesamter Körper erstarrte bei seinen Worten. Wie in Zeitlupe drehte ihm ihr Gesicht wieder zu. Sie war kreidebleich geworden, obwohl noch immer Unglaube in ihrem Gesicht stand. Sergej nickte erneut und presste die Lippen zusammen.
"Wir alle sind es. Armand, Anya seit kurzem und auch ich." Nun war es passiert. Er hatte es gesagt und es lag in ihrer Hand, wie sie reagieren würde. "Mit dem Unterschied, dass wir dich nicht töten wollen. Und auch deine Familie nicht." fügte er hastig hinzu.
Etliche Minuten herrschte Totenstille in dem Zimmer. Nur Miriams hastiger Atem war zu hören. Man konnte ihr ansehen, dass sie mit einem neuen Schock kämpfte und Sergej spürte, wie sie wieder zu zittern begann.
"Das glaube ich dir nicht." jappste Miriam kaum hörbar. Der Mann, dem sie bis eben ihr Leben anvertraut hätte, seufzte und zögerte. Dann öffnete er langsam seine Lippen und zeigte ihr seine Zähne. Schlagartig hörte Miriams Zittern auf. Sie hielt den Atem an und konnte voller Entsetzen dennoch nicht den Blick von seinem Gebiss lösen. Dann sah Sergej, wie sich ihre Augen langsam verdrehten. Ihr Kopf fiel nach hinten zurück und die Anspannung ihres Körpers ließ schlagartig nach. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

1 Kommentar:

  1. Das ist wahrhaftig für Miriam eine schreckliche Wahrheit. Und obendrein noch eine Mehr, als sie ohnehin schon zu verkraften hat.

    Nun ist Sergejs Selbstbeherrschung gefragt. Er hat eine bewusstlose und unendlich verführerisch duftende Miriam vor sich liegen. Aber er kann die Gelegenheit ja auch ergreifen und zu einer schnellen Jagd aufbrechen. Von der kommt er hoffentlich zurück, bevor Miriam aufgewacht ist.

    Fragt sich, wie es wird, wenn sie wieder aufwacht. Denn das wird schon unweigerlich passieren. Kann sie Sergej akzeptieren? Kann sie die Beziehung akzeptieren? Kann sie ihr Leben als Braut eines Vampirs akzeptieren? Oder läuft sie fort?

    Ui das find ich gut. Sie läuft fort und trifft auf Anya und man findet beide zusammen und alle leben glücklich bis an ihr Ende? :)

    Irgendetwas sagt mir, dass es anders kommt.

    Liebe Grüße
    Joe

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