Samstag, 15. Januar 2011

Noctambule: Vor 26 Jahren...

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Amanda Dubrés hatte mit höchster Neugier das Eintreffen des Geschwisterpaares erwartet. Sie hatte beschlossen, Anya keine Sekunde aus den Augen zu lassen und so anhand kleinster Körpersignale die Wahrheit herauszulesen, die offenbar so zwingend verborgen bleiben sollte.
Doch als die Beiden auftauchten, vergaß sie ihren Plan völlig verblüfft und war froh, dass der Weg zu ihr vom Comte gebremst wurde.
Das verschaffte ihr die Zeit sich zu fassen. Sie hatte Armand gesehen. Schlimmer noch, sie hatte ihn erkannt. Allerdings war diese Erkenntnis so unglaublich, dass sie einen tiefen Zug aus ihrem Weinglas benötigte, um sich zu fassen.


Vor fast 26 Jahren auf einem Ball in Paris hatte man ihr Armand Sartous vorgestellt. Die ganze Woche hatte sie verzweifelt überlegt, woher ihr der Name bekannt war und nun sah sie die Szene so deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen. Welche Frau würde so einen Mann jemals vergessen? Allerdings war sie inzwischen eine gichtgeplagte, alte, hässliche Schabracke. Armand hingegen sah keinen Tag älter aus!

Amanda hatte viel erlebt in ihrem Leben und das meiste davon hatte sie selbst angestiftet. Mochte Gott verhindern, dass auch nur ein Bruchteil von ihren Erlebnissen jemals an die Öffentlichkeit kam! Man hätte sie gesteinigt und lebendig begraben. Oder schlimmer noch: sie wäre mit Schimpf und Schande aus der Gesellschaft ausgestoßen worden.
Diese Erfahrungen hatten ihr bisher geholfen, sich nicht allzu schnell aus der Fassung bringen zu lassen. Dies half ihr auch jetzt, aber sie konnte sich nur schwer von dem Anblick dieses seltsamen Mannes losreißen. Wohl kaum ein anderer Mann hätte es vermocht, ihr altes Herz noch einmal zu solchen Kapriolen zu veranlassen. Die Art, wie er den Kopf zu Anya neigte, die kleinen Gesten, mit denen er der zierlichen Frau stumm versicherte, jederzeit seiner Aufmerksamkeit gewiss zu sein, die geschmeidigen Bewegungen, mit denen er ging oder sich verbeugte.. all das vermischte sich zu einer unglaublich begehrenswerten Aura. Dieser Mann strahlte genau die Gefahr aus, die eine Frau suchte, um sie zähmen zu können.
Endlich schaffte sie es, ihre Aufmerksamkeit wieder auf Anya zu richten. Nie im Leben war die kleine Frau die Schwester dieses Mannes! Madame Dubrés war bereit, ihr gesamtes Vermögen darauf zu verwetten. Oder sollten die Beiden etwa tatsächlich Geschwister sein und den Begriff der Geschwisterliebe deutlich anders auslegen als es der Gesellschaft recht war?

Jede erfahrene Frau erkannte sofort die Art der Blicke, die Anya ihrem Begleiter schenkte. Amanda war klar, wie hoch die Gefahr war, dass die beiden enttarnt wurden. Auch wenn Beide das Glück hatten, dass die wenigsten Frauen so genau hinsahen. Der Skandal würde den ganzen Sommer in Marseille jede Langeweile vertreiben. Zwei Faktoren waren es, die Madame Dubrés klar machten, dass es keine Chance gab, dieses seltsame Band zwischen den Beiden zu durchtrennen.
Erstens: Armand zeigte sehr deutlich, wie viel ihm an Anya gelegen war. Zumindest deutlich für eine Frau wie Amanda, die es gewohnt gewesen war, dass ihr die Männer scharenweise zu Füßen gelegen hatten
Und Zweitens: Sie war viel zu alt für solche Spielchen und selbst in ihren jungen Jahren hätte sie Anyas Vergleich nicht standgehalten.
Aber was, zum Teufel noch mal, veranlasste ein solche Paar sich der Gesellschaft als Geschwister zu präsentieren und die Öffentlichkeit zu suchen, statt sich in ein entlegenes Nest zu verkriechen und dort unerkannt leben zu können? So sehr sich Madame auch den Kopf zerbrach, sie fand keine Antwort. Die Zeit reichte nicht, denn die Zwei näherten sich ihr nun und eine ganz andere Frage drängte sich in den Vordergrund. Erkannte sie das Paar an oder nicht? Die Gesellschaft richtete sich noch immer wie eine Herde stumpfer Schafe nach ihrem Urteil. Würde sie sich abwenden, könnte Armand sein Haus gleich wieder verkaufen. Allerdings würde sie dann aber auch nie die Gelegenheit bekommen, hinter das Geheimnis der Beiden zu kommen.
Mit einem gütigen Lächeln streckte sie Anya die Hand entgegen.
"Madame Frechdachs! Wie erfrischend anders Eure Erscheinung heute wieder ist. Ihr seht mich hingerissen!" verkündete sie laut und deutlich.


Anya eilte die letzten Schritte auf Madame Dubrés zu, ergriff ihre Hand und lächelte sie an. Heute hatte sie wesentlich mehr Selbstbewusstsein als beim letzten Treffen. Und sie war froh, so freundlich von ihr begrüßt zu werden, hatte sie doch mit ganz anderen Reaktionen gerechnet.
Amanda tätschelte lächelnd die Hand der jungen Frau, schaute aber bereits mit scharfem Blick zu Armand auf, der gerade in eine galante Verbeugung tauchte.
Seine Bewegungen weckten in ihr neue Erinnerungen. Es war die gleiche Eleganz, die gleiche Geschmeidigkeit wie damals. Und plötzlich erinnerte sie sich auch an seine Stimme, die ihr damals durch Mark und Bein gegangen war. Aber wie war das nur möglich? Wie konnte das sein, dass er überhaupt nicht gealtert war?

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