Donnerstag, 6. Januar 2011

Noctambule: La Grande Dame

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Miriams überraschter Ausruf riss sie aus ihren Überlegungen. Eine prachtvolle Kutsche hielt neben ihnen an und Miriams Griff an ihrem Arm wurde mahnend, sodass sie aufsah. In der Kutsche thronte eine ältere, ausgesprochen füllige Dame mit furchteinflößend strengem Gesicht.

"Ooh.. Madame Dubrés! Wie schön, Euch zu begegnen! Wie es scheint, hat sich Euer bösartiger Gichtanfall gelegt?" Miriam hatte keine Zeit, Anya vorzubereiten, denn die Dame in der Kutsche hatte beide fest in ihrem prüfenden Blick. Miriam versank in einem kurzen, höflichen Knicks und Anya hatte es eilig, es ihrer Freundin gleichzutun. Als sie wieder aufsah, nickte Madame Dubrés mit dem Anflug eines Lächelns in dem faltigen Gesicht.


Anya versuchte das Alter der Dame zu schätzen. Aber die dicke Puderschicht machte es schier unmöglich. Anya war sicher, dass die Haare nicht viel Puder benötigt hätten, zumindest was die Haarfarbe betraf. Ein paar blaue Augen, die durch das hohe Alter wasserhell geworden waren, musterten Anya mit strengem Blick nachdem sie ein wenig milder auf Miriam gelegen hatten.
"Ich bin erfreut, Mademoiselle la Comtesse. Jaja, es geht schon besser und ein wenig frische Luft kann nicht schaden." Die Stimme der alten Dame war ein wenig rau und sie wirkte auf Anya wie eine Frau, die gerne unverblümt sprach.
"Meinen Körper in die Kutsche zu wuchten war allerdings für heute Bewegung genug." bestätigte Madame Dubrés Anyas Einschätzung. Miriam kicherte verlegen. Sie suchte nach einer höflichen Antwort aber die Dame winkte bereits ab.
"Erspart Euch bitte jeden höflichen Kommentar. Man wird es nicht glauben, aber in Eurem zarten Alter war ich eine blühende Schönheit." In ihren Augen glomm ein wehmütiger Schimmer auf, dann wich er interessierter Neugier, als ihr Blick sich Anya zuwandte.
"Und wer ist diese hübsche Unbekannte an Eurer Seite, wenn ich fragen darf?" Miriam errötete. Die Etikette hätte längst eine Vorstellung verlangt, aber sie war ja noch gar nicht zu einem zusammenhängenden Satz gekommen.
"Das ist Madame Sanisoise. Meine neue Freundin, müsst Ihr wissen. Sie ist gerade aus Paris angekommen. Anya, darf ich dir Madame Dubrés vorstellen?" Anya hatte keine Ahnung, was sie nun sagen sollte. Leicht überfordert fielen ihr nur gestammelte Antworten ein und die verkniff sie sich lieber. Aber sie dachte an Armand und wie souverän er sich in dieser Gesellschaft am Opernabend bewegt hatte. Sie holte tief Luft.
"Sehr erfreut, Madame." brachte sie mit einem kurzen Lächeln heraus. Die alte Dame nickte nur und hob ein Monokel an ihr rechtes Auge, mit dem sie nun Anya von oben bis unten eingehend zu betrachten begann. Anyas Gesicht rötete sich bei dieser unverfrorenen Musterung und ihr Kinn schob sich ein wenig nach vorne.
"Soll ich mich umdrehen, damit Ihr alle Seiten betrachten könnt, Madame?" fragte sie und schaute direkt in die hellblauen Augen. Miriam sog hörbar schockiert die Luft ein. Anyas dunkelblaue Augen wichen nicht aus. Jetzt war es herausgeplatzt und sie würde sicher niemals den Fuß über eine noble Schwelle setzen in Marseille.
Die Sekunden zogen sich zu einer Ewigkeit, in der Madame Dubrés mit stechendem Blick Anya fixierte. Das Doppelkinn begann zu beben und das Monokel fiel an seinem Band baumelnd zurück auf den üppigen Busen. Dann plötzlich brach sie in schallendes Gelächter aus. Verwirrt flog Anyas Blick zu Miriam.
"Frech! Wie erfrischend! Ihr habt selbstverständlich Recht, junge Dame. Nehmt bitte meine Entschuldigung an." Die raue Stimme der alten Dame bebte noch immer vor Lachen und sie wedelte mit der Hand. Miriam stand völlig verdattert da. Ihr Blick flog zwischen Anya und Madame Dubrés hin und her. Anyas Gesicht entspannte sich erleichtert zu einem breiteren Lächeln.
"Auf, auf, junge Damen! Steht nicht so fassungslos herum wie zwei verschreckte Hühner. Herein in die Kutsche! Ich will mehr wissen und Ihr glaubt sicher nicht, dass ich einen Fuß aus diesem elenden Gespann setze, wenn Ihr hereinklettern könnt!" Sie griff nach ihrem Gehstock und piekste damit empfindlich in die Seite ihres Kutschers, der sich sofort in Bewegung setzte, herunter sprang und den beiden Mädchen die Tür der Kutsche aufriss, um ihnen hineinzuhelfen.

Miriam blinzelte. Nie im Leben hätte sie gewagt, die Königin der Gesellschaft so anzusprechen, wie Anya gerade. Noch immer völlig verblüfft gehorchte sie eilends. Sie war nervös. Anya war völlig ahnungslos, wen sie da gegenüber hatte. Noch so ein Affront und es würde ein schreckliches Erdbeben geben, da war sie ganz sicher. Andererseits war es eine unendliche Ehre, in dieser Kutsche zu sitzen. Auch das war Anya völlig unklar. Beinahe hatte Anya die wichtigste Hürde in dieser Gesellschaft vergeigt. Die Gefahr bestand immer noch. Aber Miriam hatte keine Möglichkeit, Anya zu warnen.
Anya hingegen fand die alte Dame ausgesprochen spannend. Gerne krabbelte sie in die Kutsche und sortierte ihr Kleid zurecht. Madame Dubrés nahm mit ihrem wuchtigen Körper die gesamte Breite der rückwärtigen Bank ein, sodass die beiden jungen Frauen sich nebeneinander auf die andere Seite quetschten.
Der Kutscher schloss die Tür und kletterte wieder auf seinen Bock.
"Fahre er einfach herum, Kutscher! Wir wünschen gesehen zu werden." verkündete Madame gebieterisch. Auf das gemurmelte "Sehr wohl, Madame." achtete sie nicht. Sie war Gehorsam gewohnt. Ihre Aufmerksamkeit lag völlig auf der erfrischend unkonventionellen jungen Frau, die ihr gegenüber saß.

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