Freitag, 7. Januar 2011

Noctambule: Die Kutschfahrt

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Amanda Dubrés galt als ein Eckpfeiler der Marseiller Gesellschaft. Sie war hier geboren und bereits sehr früh verheiratet worden. Es war eine Zweckehe wie so oft in der hohen Gesellschaft und Amanda hatte noch Glück, dass ihr recht alter Ehemann ein hoch geachteter Kaufmann war, der seiner jungen Frau viele Freiheiten gewährte. Sie war erst sechzehn Jahre alt gewesen, er bereits stattliche siebenunddreißig.
Amanda war keineswegs auf den Kopf gefallen. Sehr schnell hatte sie die Regeln der feinen Gesellschaft begriffen und sich bemüht, Freundschaften zu knüpfen und Fuß zu fassen. Ihre Ehe blieb kinderlos, was nicht zuletzt an dem hohen Alter ihres Gatten lag.
Amandas erste Ehejahre verliefen in geordneten Bahnen. Ihr Mann war allerdings schnell von ihrem zügellosen Temperament überfordert. Er drückte rasch sämtliche Augen zu und duldete Amandas Eskapaden erleichtert, weil er seine Impotenz auf diese Weise problemlos verbergen konnte, wie er glaubte.

Jacques Dubrés war so entgegenkommend, frühzeitig das Zeitliche zu segnen. Auf einer seiner geschäftlichen Reisen wurde er des Nachts bei Paris von einem grausamen Raubtier ermordet, das dort sein Unwesen trieb und immer wieder Menschen die Kehle zerfleischte.
Die Toten wurden meist in einer verwunderlich kleinen Blutlache aufgefunden, doch geklärt wurden diese Fälle damals nie. Auch die Frage, was einen reichen Kaufmann in die düsteren Viertel der Großstadt führte, fand keine Antwort. Die Akte Jacques Dubrés wurde geschlossen und Amanda konnte als junge Witwe mit einem immensen Vermögen sorglos in die Zukunft schauen.

Mit ihren 52 Jahren zählte Madame Dubrés definitiv zum alten Eisen. Die einstige Schönheit war verblasst, ihr biegsamer Körper fett und gichtkrank geworden. Ihre hellen Augen hatten vieles kommen und gehen sehen. Sie hatte Intrigen und Verrat erlebt, Lügen, Liebe und Verschwörungen, Wachstum und Verfall reicher Häuser und Adelsfamilien.
Sie war nicht mehr allzu leicht zu erschüttern und im Grunde drohte ihr Leben nun allmählich langweilig zu werden.
Sie verfluchte ihr Alter und ohne ihr Vermögen, das inzwischen etliche Ärzte, Heiler und Pfleger fütterte, wäre sie wohl schon lange unter der Erde. Aber sie gedachte sämtlichen Teufeln ein Schnippchen zu schlagen und beabsichtige keineswegs, das Zeitliche zu segnen, bevor sie selbst sich dafür entschieden hatte. 'Regeln sind dafür da, dass man sie bricht. Aber erst, wenn man sie in- und auswendig gelernt hat!' lautete ihr Motto.

Und sie hatte bisher alle gebrochen.

Spaßig für sie war aber, dass schon seit Jahrzehnten die Marseiller Gesellschaft sich nach den Regeln richtete, die sie aufzustellen gedachte. Wenn Madame Dubrés der Meinung war, dass ein neues Mitglied die hohe Gesellschaft betreten durfte, dann gab es keinen Zweifel am Ruf desjenigen.
Wer die Prüfung von Madame Dubrés überstanden hatte, galt als unanfechtbar – bis Madame Dubrés ein anderes Urteil sprach. Wagte jemand, sich danach zu erkundigen mit welchem Recht sich Madame diese Position angeeignet hatte, erhielt er ein Schulterzucken. Genau wusste das niemand. Es wagte nur keiner, sie anzuzweifeln.

Nun saß ein interessantes Persönchen ihr gegenüber. Miriam de Moureaux galt als einer der kleinen Lieblinge von Madame. Sie mochte das quirlige Mädchen und galt als langjährige Freundin der Familie des Comte.
Allerdings bedeutete das bei weitem noch nicht, dass Miriam irgendjemanden als Freund anschleppen konnte, solange Madame denjenigen nicht unter die Lupe genommen hatte. Und nun war es also Anya Sanisoise.
Die scharfen Augen von Madame hatte bereits registriert, dass diese hübsche junge Frau etwas ungewöhnliches ausstrahlte. Vor ihr saß keineswegs eine geborene Adlige. Madame hätte jeden Eid geschworen, dass nicht einmal eine gute Familie dahinter steckte.
Zu unsicher war der Blick der jungen Frau und zu sehr achtete sie darauf, keine Fehler zu machen. Diese kleine Frechheit eben hatte Madame den eigentlichen Charakter der jungen Frau offenbart. Das Mädel hatte Stolz und Mut. Beides waren Eigenschaften, die sie zutiefst schätzte. Aber noch etwas anderes strahlte diese junge Frau aus. Es galt herauszufinden, was sie zu verheimlichen suchte.

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