Samstag, 1. Januar 2011

Noctambule: Rückblick - Verheerende Entdeckung

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Toulouse 1238

Es war für Armand beinahe wie ein Dejavue. Nur mit vertauschten Rollen, denn nun war er es, der das Aufwachen des frisch geborenen Vampirs erwartete. Georges blonde Locken waren verschwitzt und klebten in seiner nassen Stirn. Das vor wenigen Stunden noch rein weiße Hemd klebte nun verschmutzt und schweißdurchtränkt an seiner Brust.
Armands Augen wichen nicht von Georges Gesicht und so bemerkte er an dem leichten Blähen der Nasenflügel, dass George begann, zu sich zu kommen. Er wusste genau, dass George nun verwirrt die neuen Gerüche wahrnahm. Dies und die ungewohnt lauten Geräusche seiner Umgebung würde ihn aus seiner Benommenheit herausholen und tatsächlich öffnete George flackernd seine Augen.


Er sah sich mit wildem Blick um und sein Oberkörper richtete sich so ruckartig auf, dass Armand sich unwillkürlich anspannte. Seine Hand war ruhiger als sein Herzschlag, als er sein Weinglas abstellte und George zunickte.
"Ich hoffe, es geht dir besser." meinte er leise. Georges Kopf schoss zu ihm herum. Seine blauen Augen musterten Armand verständnislos und erst jetzt fiel Armand ein, dass George ihn noch nie gesehen hatte. Er senkte grüßend den Kopf und imitierte mit wedelnder Handbewegung einen höfischen Gruß.
"Ich bin Armand Sartous. Ich habe dich im Park gefunden und war so frei, dich anzuziehen und mitzunehmen. Unter uns ist es nicht üblich, seinesgleichen liegen zu lassen und dem menschlichen Pöbel auszusetzen."
George blinzelte verwirrt und presste mit schmerzlichem Stöhnen seine Handflächen an die dröhnenden Schläfen.
"Ich verstehe kein Wort. Wo ist Adaliz?" krächzte er heiser. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Aber der Filmriss blieb und er fand keinen Reim darauf, in völlig fremder Umgebung aufzuwachen und einem Unbekannten zu begegnen, der ihm mehr als unheimlich war. Vorsichtig blinzelte er zu dem langen Mann hinüber, der immer noch in seinem Sessel lümmelte, die langen Beine ausstreckte und mit gesenktem Kopf zu ihm herüber sah.
"Offensichtlich nicht hier. Sie hat dich gebissen und infiziert. Ist dir klar, was das bedeutet?" George zuckte zusammen und erinnerte sich plötzlich glasklar. Der Gedanke an die unendliche Lust, die er bei ihrem Biss empfunden hatte, jagte einen Schauer über seinen Rücken. Er hatte das tatsächlich gewollt! Er erinnerte sich daran, ihr zugestimmt zu haben. Was, um alles in der Welt, hatte er sich dabei gedacht? Nichts, natürlich! Eine rein schwanzgesteuerte Entscheidung hatte sein ganzes Leben verändert. Mit aufgerissenen Augen hob er den Kopf zu Armand.
"Bin ich tot?" fragte er entsetzt. Armand stieß ein lautloses, freudloses Lachen aus und schüttelte den Kopf.
"Keineswegs. Obwohl du wohl dein menschliches Leben als beendet betrachten kannst." Er bemerkte Georges verständnislosen Blick und bleckte kurz seine scharfen Reißzähne, die George die Augen aufreißen ließen. Unbewusst zuckte er zurück und bremste in letzter Sekunde seinen Reflex aufzuspringen und in Verteidigungsposition zu gehen. Ihm dämmerte der Grund für Armands kleine Geste und er tastete mit der Zunge nach seinen Zähnen.
Leicht amüsiert konnte Armand beobachten, wie Georges Augen sich erneut weiteten und seine Hand zum Mund schoss. Mit dem Finger und der Zunge tastete George über seine scharfen, sehr langen Eckzähne ohne seinen Blick von Armand zu nehmen. Armand deutete auf einen kleinen Spiegel an der Wand.
"Tu dir keinen Zwang an. Betrachte dich nur." Georges Augen folgten Armands Finger. Ihm war nicht bewusst, wie geschmeidig seine Bewegung war, als er vom Boden hochschnellte. Die neue Kraft war schlecht dosiert und er stolperte vorwärts an die Wand, wo er abprallte und bei Armand ein kleines Lachen auslöste. Aber George achtete nicht darauf. Er riss seinen Mund auf und starrte fassungslos auf sein Gebiss.
Dann schien ihm auch die Veränderung seines Gesichts aufzufallen. Seine Finger glitten über die Haut, die Wangenknochen und die Kiefer. Schwer atmend drehte er sich zu Armand um.
"Wo ist Adaliz? Wieso ist sie nicht hier? Sie versprach mir ein gemeinsames, neues Leben an ihrer Seite!" Armand hob träge seine schwarzen Augen in Georges Gesicht. Noch immer war er nicht aufgestanden.
"Sie war schon immer unzuverlässig. Du wirst sie nicht wieder sehen. Das ist das Einzige, was ich dir sagen kann." Er würde einen Teufel tun und George von seiner Tat berichten. Noch immer hallten ihre Worte in seinem Gedächtnis wieder. Vampire töteten sich nicht, sie halfen einander. Er wollte keinen Feind in George haben. In seinen Augen war George ein Opfer wie er selbst. Ein Opfer von Adaliz.

George fragte noch öfter nach Adaliz, aber er lockte keinerlei Neuigkeiten aus Armand hervor. Die schöne Rothaarige ging ihm nicht aus dem Kopf, obwohl er allerhand Neues zu lernen hatte. In Armand fand er einen geduldigen Lehrer, der ihm seine neuen Fähigkeiten ebenso behutsam zeigte wie die Jagd.
George war hin und her gerissen zwischen Faszination und Ekel vor sich selbst. Er verabscheute alles Gewalttätige und entsprechend widerte ihn der Gedanke an eine blutige Mahlzeit an. Die neu gewonnene Schönheit und Eleganz hingegen begeisterten seinen angeborenen Narzissmus. Er nutzte regnerische Tage aus, die seine Haut nicht übertrieben belasteten, um sich bei einem Schneider neu einzukleiden und brach bei Nacht in seiner eigenen alten Unterkunft ein, um dort sein weniges Hab und Gut zusammen zu raffen und bei Armand unterzubringen.
Allerdings wurde er Tag für Tag reizbarer. Armand hatte keinerlei Anstalten gemacht, für normale Nahrung zu sorgen, die George gewohnt gewesen war. Einige Tage lang versuchte George sich in Kneipen mit kleinen Imbissen über Wasser zu halten.
Sie schmeckten ihm nach wie vor, aber sie hinterließen nie ein sättigendes Gefühl. Stattdessen ertappte er sich mehrere Male dabei, mit einer gewissen Gier den einen oder anderen jungen Gast anzustieren.
Allmählich wurde er müder und schwächer bis Armand ihn schließlich doch zu einer ersten Jagd überreden konnte. George stellte sich geschickter an, als er selbst von sich erwartet hatte. Und Armands Hoffnung ging auf, denn kaum hatten sie eine nahrhafte Beute ausgemacht, als George die Witterung aufnahm und nur noch seine neu gewonnenen Instinkte einsetzte. Und wie bei Armands erster Jagd verlor auch George die Beherrschung und weigerte sich, seine Beute loszulassen, nachdem er über zwei Drittel des Blutes aus seinem Opfer heraus gesogen hatte.
Die Nahrung stärkte ihn sofort wieder, aber George blieb zwei ganze Tage und Nächte in seinem großen Zimmer in Armands Haus und grübelte über sich selbst nach. Erst in der dritten Nacht fasste er einen Entschluss. Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass er in Zukunft seine Ernährung umstellen musste. Aber vorher konnte er seiner alten Leidenschaft nachgehen und sich die Nächte mit Glücksspielen versüßen. Gewann er, war alles gut. Verlor er, lauerte er seinem Kontrahenten auf, tötete ihn und raubte ihn aus.

Von einem dieser Ausflüge kehrte er gut gelaunt und deutlich reicher zurück in Armands Haus, das dunkel und scheinbar verlassen da lag. Wie üblich war ein Fenster im ersten Stock geöffnet, das er mühelos erreichte. Entspannt ordnete er seine Kleidung und schlenderte den Flur entlang, um in sein Zimmer zu gehen. Er war gedankenverloren und lächelte entspannt vor sich hin. Die Nacht war heiß verlaufen. Er hatte einer hübschen Prostituierten aufgelauert und zum ersten Mal seit seiner Verwandlung festgestellt, dass Sex noch viel besser war als früher.
Die junge Frau war sofort heiß auf ihn geworden und sie hätte nicht einmal Geld von ihm verlangt, so schnell erlag sie seinem neuen, mysteriösen Charme. Er nahm sich, was er wollte und das ausgiebig, bevor er ihr mit seinem tödlichen Biss die schönste und auch letzte Ekstase ihres Lebens schenkte. Er schmunzelte selbstgefällig, als er sein Zimmer betrat und sich nach links zu seinem Bett wandte.
Verwirrt blieb er stehen. Das Bett stand nicht links. Es stand rechts. Es war nicht sein Bett, wie er sofort erkannte und es war auch nicht sein Zimmer. Er hatte in Gedanken die falsche Tür gewählt. Kopfschüttelnd und leicht grinsend über sich selbst wollte er das Zimmer wieder verlassen, als sein Blick auf ein Bild fiel. Wie vom Donner gerührt starrte er auf das Gemälde. In einem üppigen Rahmen aus Blattgold lächelte ihn verführerisch das schöne Gesicht von Adaliz an.

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