Dienstag, 11. Januar 2011

Noctambule: Rückblick - Die Stechmücke

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Noch waren die qualvollen Schreie weit entfernt. Aber Armand legte an Tempo noch zu. Seine Augen tränten bereits vom Tageslicht, jede Berührung von Sonne an seiner Haut führte zu einem schmerzhaften Zurückzucken. Trotzdem blieb er stur.
Für das menschliche Auge höchstens als verwischter Schatten zu erkennen, jagte er durch den Wald, nun zielstrebig und sicher. An einer Lichtung musste er sich an einem Baum festhalten, um seinen schnellen Lauf rechtzeitig zu stoppen, damit er nicht direkt in das Sonnenlicht taumelte. Und was er sah, ließ ihn vor Schock erstarren.


Auf der Lichtung vor ihm lang ausgestreckt ein nackter junger Mann. Arme und Beine waren weit gespreizt und mit dicken Lederbändern fixiert, die durch in den Boden getriebene Pflöcke den Körper wie ein gespanntes Fell in Position hielten. Genau über seinem Hals schwebte eine drohend aufgerichtete Axt, nur gehalten von einem simplen Holzgestellt und einem Seil, das über einen Balken des Gestells direkt in die gefesselte Hand des Mannes führte.
Armand erkannte sofort die grausame Idee dahinter. Sobald der Mann das Seil losließ, würde die Axt herunterschnellen und ihn enthaupten. Trotz aller Grausamkeit dieser Konstruktion war das aber nicht der Grund für die heiser werdenden Schreie. Die erkannte Armand mit kaltem Entsetzen erst nach einiger Verzögerung.

Vor ihm lag ein Vampir. Nackt dem Licht der Sonne ausgesetzt, litt der Mann entsetzliche Qualen. Am ganzen Körper hatte die Haut bereits Brandblasen gebildet und war teilweise dunkelrot. Andere Stellen waren bereits aufgeplatzt und zeigten das rohe Fleisch.
Sterben würde er nicht davon, aber die Schmerzen mussten kaum noch erträglich sein. Und es lag in seiner eigenen Hand, wann er dieser Folter ein Ende machen und das Seil loslassen würde. Er würde sich selbst enthaupten. Und so heftig, wie die Hand des Mannes bereits zitterte, war es eine Frage von Sekunden, bis er loslassen würde.
Was auch immer dieser Mann getan haben musste, um diese Strafe zu verdienen, Armand konnte diese Qual nicht länger dulden. Unsägliche Wut überkam ihn. Mit lautem Fauchen stürmte er auf die Lichtung und riss mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung die Axt aus ihrer sensiblen Verankerung. Er nutzte sie, um die Lederbänder an Händen und Füßen zu durchtrennen, dann warf er seinen Umhang über den nackten Körper und zerrte den noch immer schreienden Mann in den kühlenden Schatten.

Selbst der kurze Aufenthalt in der blendend grellen Sonne hatte Armands Händen und Gesicht empfindlich zugesetzt. Seine Augen brannten ohnehin schon von der Helligkeit des Tages. Hier im Schatten der Bäume war es erträglich für ihn. Der Mann vor ihm hatte sich ein wenig beruhigt und stöhnte tief. Mit tränenden, entzündet wirkenden Augen starrte er Armand dankbar und fassungslos an. Reden konnte er offenbar nicht. Armand wollte auch noch nicht reden. Er wollte zurück in seinen Keller.
Hastig löste er die restlichen Lederbänder von Hand- und Fußgelenken, unter denen die Haut bereits aufgescheuert war. Dann hob er den Körper des Fremden vorsichtig auf seine Arme und trabte zurück. Zum Ersten Mal seit langem wurden seine enormen Kräfte völlig verausgabt.
Das qualvolle Stöhnen des Mannes wurde leiser, hörte aber nicht auf.
Armand keuchte heftig und der Schweiß lief ihm über das Gesicht, als er endlich im Schutz des kühlen Kellers seine Last auf den Boden ablegte. Er gab ihm vorsichtig etwas Wasser und ließ sich erschöpft in einiger Entfernung an der Wand nieder. Seine Unruhe war verschwunden. Müde lehnte er den Kopf zurück und versuchte, die Schmerzlaute auszublenden, um nachdenken zu können. Irgendwie musste er den Mann versorgen und versuchen, seine Schmerzen zu lindern. Er wusste nur nicht genau, wie.

Erst gegen Abend setzte die Selbstheilung des Fremden auch sichtbar ein. Die Verbrennungen waren zu heftig, um so schnell zu heilen, wie Armand es bei sich gewohnt war. Es ging ihm nicht schnell genug. Er brannte darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Zu ersten Mal begegnete er außer George und Adaliz einem anderen Artgenossen. Diese Begegnung war von unendlichem Wert für Armand.
Vampire konnten mehrere Tage lang problemlos ohne Nahrung verbringen, bevor es sie wieder hinaus trieb. Die Neugier ließ Armand daher auch nicht von der Seite des Verletzten weichen. Wasser gab es zur Genüge und nachdem sich Armand an das unruhige Stöhnen seines unbekannten Gastes gewöhnt hatte, konnte er sich im Sitzen schlafend ein wenig erholen.
"Wer bist du?" Die heiser gestellte Frage riss Armand aus dem Schlaf. Sofort war er hellwach und betrachtete den Mann, der vor ihm lag.
"Armand Sartous. Einer wie du." erwiderte er ruhig. Der Fremde wirkte selbst auf Armand ungewöhnlich schön. Die Haut in seinem Gesicht hatte sich geglättet und begann allmählich, wieder die normale Blässe zurückzugewinnen. Verschwitzte blonde Haare, die im Moment ungepflegt wirr und lang waren, umrahmten ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und dunkelblauen Augen.
"Ich bin Sergej Komarow." stellte er sich vor und fügte mit einem Grinsen hinzu:
"Das bedeutet Stechmücke." Armand erwiderte das Grinsen und beide zeigten dabei ihr beeindruckendes Gebiss.
"Wer hat dir das angetan und warum?" Diese Frage beschäftigte Armand am Meisten. Hatte er einen Schwerverbrecher befreit? Oder war Sergej Menschen in die Falle gegangen? Aber wenn ja, was war geschehen? Wie hatte das passieren können?
Sergej stöhnte kurz und wandte den Kopf mit verzerrtem Gesichtsausdruck weg.

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