Donnerstag, 22. November 2012

Noctambule III: Uraltes Pergament

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Das uralte Pergament knisterte zerbrechlich, als Orven es behutsam bewegte. Yanis sah kunstvolle Schriften, wundervoll geschwungen und wie gemalt. Noch nie hatte er solch liebevoll angelegten Seiten gesehen, sogar die Farben der bunten Anfangsbuchstaben und Überschriften waren nahezu perfekt erhalten. Still verfolgte er Orvens Hände, die Seite für Seite umschlugen, und genoss einfach die Schönheit der Schrift und das Alter des Wissens, das darin verborgen war, denn entschlüsseln konnte er die Worte nicht.


Als Orven nach einer kurzen Pause die nächste Seite umschlug, prallte Yanis mit einem Schrecklaut zurück und ließ beinahe die Kerze fallen. Orven hatte eine Zeichnung aufgeschlagen, deren Details so sorgfältig und genau waren, dass Yanis glaubte, die lebendige Fratze eines Vampirs vor sich zu haben. Keuchend näherte er sich dem Bild wieder und starrte darauf, während seine Hände zitterten und sein Körper von einer massiven Gänsehaut überzogen war. Der Künstler hatte dem Vampir glühende Augen wie Kohlestücke gegeben. Lange, wirre Haare umrahmten das Gesicht, doch am erschreckendsten waren die furchtbaren Zähne, an deren Spitzen Blut klebte oder herunter tropfte.
Orven lächelte, als er die Reaktion seines Schülers beobachtete und nickte wissend.
"Das, mein Sohn, ist das, was du jagen willst. Diese Dämonen gibt es seit Anbeginn und bisher ist es niemandem gelungen, sie zurück in die Hölle zu verbannen. Wer einmal mit ihnen in Berührung kam und es überlebt hat, wird den Rest seines Lebens damit verbringen, nachts schweißgebadet zu erwachen und er wird von allen Menschen in seiner Umgebung für wahnsinnig gehalten. Manche verlieren in der Tat ihren Verstand. Sie rauben einem die Seele, mein Sohn. Nach allem, was du erlebt hast, scheint es als wärest du auserkoren, sie zu jagen. Gott muss eine ganze Armee von Schutzengeln an deine Seite gestellt haben. Du bist gesegnet. Aber du musst noch viel lernen."
Yanis nickte eifrig. Tausende von Fragen überfluteten ihn und die Aufregung ließ seinen Puls in die Höhe schnellen. Orven blätterte nicht weiter um, sondern ließ die Seite mit dem Bildnis des Vampirs offen liegen, sodass Yanis immer wieder darauf starren musste.
"Hast du selbst schon gejagt? Wie findet man sie? Wie besiegt man sie am besten? Wie schützt man sich vor ihnen? Warum wissen die meisten Menschen nicht darüber Bescheid? Wer…" Orven bremste ihn, indem er mahnend die Hand hob.
"Langsam, mein Sohn. Ich weiß, du hast viele, viele Fragen. Du wirst feststellen, dass jede Antwort neue Fragen heraufbeschwört. Als erstes wirst du wohl lernen müssen, dich in Geduld zu üben. Sobald du lesen kannst, darfst du diese Bücher hier studieren, sofern unsere Zeit dies zulässt." Yanis atmete schwer, so viel Mühe kostete es ihn, sich zurückzuhalten. Zu seinem Bedauern schlug Orven das Buch zu und stellte es liebevoll zurück an seinen Platz.
"Komm mit." befahl er dann und griff nach einer frischen Kerze. Er führte Yanis durch den Raum zu einer Tür im hinteren Bereich. Sie war mit mehreren Schlössern und schweren Riegeln versehen wie die Tür eines Kerkers und in Yanis schnellte die Aufregung wieder nach oben.
"Ich sagte bereits, dass wir neugierig sind und gerne forschen, nicht wahr?" Orvens Stimme war gelassen und die Ruhe, mit der er begann, den dicken Schlüsselbund von seinem Gürtel zu lösen und einzelne Schlüssel heraussuchte, um die Schlösser zu öffnen, machte Yanis zappelig. Endlich war es soweit und Orven zog mit beiden Händen die massive Eichentür auf. Abgestandene Luft und der Geruch von Moder schlugen Yanis entgegen. Er glaubte zu spüren, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, als er hinter Orven den dunklen Gang betrat, der sie einige Meter in das Dunkel führte. Dann blieb Orven stehen, immer noch den Raum vor sich mit seinem Körper verdeckend, und entzündete seine Kerze an der, die Yanis in der hand hielt.
Erst das Licht beider Kerzen erhellte nun dürftig den Raum, der sich vor ihnen öffnete. Orven machte etwas Platz, damit Yanis neben ihm stehen konnte, schaute jedoch nicht nach vorne, sondern ließ Yanis nicht aus den Augen. Neugierig machte Yanis einen Schritt nach vorne. Dann blieb er wie versteinert stehen, der Mund klappte ihm auf und der Schrei, der aus seiner Kehle kommen wollte, erstickte zu einem seltsamen Röcheln.

In dem schummrigen Lichtkreis der Kerzen erkannte Yanis vor sich einen fast drei Meter langen, dicken Holztisch. Das Holz selbst musste bereits mehrere Jahrhunderte alt sein. Doch war Yanis so schockierte, was das große Skelett, dessen weiße Knochen mit metallenen Schellen am Holz festgehalten wurde. Yanis folgte der Wirbelsäule nach oben, bis sie am Hals in einem Stumpf endete. Der Kopf selbst war abgetrennt worden und lag daneben und wenn Yanis bis eben vielleicht noch geglaubt haben mochte, einen übergroßen Menschen vor sich zu haben, so erkannte er nun am Schädel selbst, dass man hier die Überreste eines Vampires aufbewahrte. Mit fasziniertem Grausen starrte Yanis auf die langen, spitzen Zähne, nicht in der Lage, den Blick davon zu lösen. Selbst die leise Stimme Orvens erreichte sein Ohr nur dumpf.
"Würden wir die Knochen dem Tageslicht aussetzen, würden sie zu Staub zerfallen wie ein altes Stück Kohle, das man fallen lässt. Deshalb ist es hier aufgebahrt." erklärte Orven ruhig.
"Habt ihr denn keine Angst, dass … dass.. er.. es.. wieder zum Leben erwacht?" stammelte Yanis nach mehreren Versuchen zu reden.
"Nein. Vampire sterben auf vielfache Weise. Unter anderem durch das Abtrennen des Kopfes. Oder ein Stich oder Schuss genau in das Herz. Aber das gelingt einem so gut wie nie, denn Vampire sind zu schnell für das menschliche Auge. Das ist der Grund, warum du den einen nicht richtig getroffen hast und den anderen gar nicht. Es ist ein Wunder, dass du noch lebst." Yanis schüttelte sich und näherte sich vorsichtig dem Tisch. Zum ersten Mal konnte er in Ruhe einen dieser Dämonen richtig betrachten. Tatsächlich erinnerte er sich daran, dass einer der Vampire, die er im Dunkeln gesehen hatte, mindestens genauso groß gewesen war. Der andere jedoch hatte ungefähr seine eigene Körpergröße gehabt. War dieser nun besonders klein gewesen oder der andere besonders groß? Er erkannte, wie recht Orven mit seinem Satz gehabt hatte: Mit jeder Antwort tauchten zahllose neue Fragen auf. Und er begriff, dass er noch lange hier sein und lernen würde, ehe er bereit war, auf die große Jagd zu gehen.

1 Kommentar:

  1. Nun scheinen die Mönche ja einiges über Vampire herausgefunden zu haben. Interessant, was in diesem Kloster so alles wartet. Ich bin sicher, Yanis wird es in Zukunft sehr eilig haben, Lesen und Schreiben zu lernen. Denn nur so kann er endlich das so sehnlich gewollte Wissen über Vampire in sich aufsaugen.

    Und ich frage mich ein wenig, was die eigentlich mit diesem Skelett da anstellen wollen? Anatomische Studien kann man daran ja wohl nicht mehr viele machen. Es wird wohl im ganzen eher eine Art Gruselkabinett sein.

    Und Yanis hat recht. Es wird lange dauern, bis er sich den Vampiren stellen kann. Wenn es soweit ist, wird er Anya aufspüren wollen und wenn er es kann wird ein übermächtiger Raoul an ihrer Seite sein. Interessante Konstellation.

    LG
    Joe

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