Sonntag, 18. November 2012

Noctambule III: Entscheidung in der Dunkelheit

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Alessio am Boden liegen zu sehen, brachte Enrico mehr aus der Fassung, als er selbst erwartet hätte. Mit wenigen Schritten war er bei ihm, nachdem Sergej ihm Platz gemacht hatte. Noch immer war das Gesicht seines Anführers vor Schmerz verzerrt, doch die Atmung war bereits wieder tiefer und auch die Augen Alessios hatten sich normalisiert. Zwischen den Fingern konnte Enrico ein dünnes Rinnsal Blut erkennen, das bereits zu trocknen begann.


"Beruhige dich Alessio. Es ist alles in Ordnung." murmelte er kaum hörbar ohne sicher zu sein, dass Alessio ihn auch verstand. Er zog mit ziemlich heftigem Kraftaufwand die verkrampfte Hand von einem Ohr und betrachtete dieses irritiert. Bei all seiner Kampferfahrung konnte er sich keinen Reim darauf machen, wie es zu dieser Verletzung hatte kommen können. Ein schneller Blick beim Eintreten hatte Enrico gezeigt, dass kein Kampf stattgefunden hatte. Alessio musste einfach zu Boden gegangen sein. Doch wodurch?
Langsam erhob er sich wieder und betrachtete die Anwesenden nacheinander. Als sein Blick Miriam und Raoul traf, klopfte sein Herz plötzlich schneller. Dort saß tatsächlich ein Kind! Ein wahrer Abkömmling zweier Vampire! So lange schon hatte er keines mehr gesehen und dieses hier war auch noch mit einer wirklichen Schönheit gesegnet.
Mit freudigem Glucksen zerrte es an den langen Haaren der jungen Frau, die es in ihren Armen hielt. Doch nun drehte es langsam den Kopf und große, blaue Augen richteten ihren Blick mit verwirrender Ruhe auf Enrico. Wie gebannt starrte dieser in die Augen des Kindes, nicht in der Lage, den Blick abzuwenden. Noch nie hatte so einen prüfenden Blick bei einem Kind gesehen und noch nie hatte er das Gefühl, tief in seinem Innersten auf seine Absichten hin geprüft zu werden.
Als die junge Frau bemerkte, dass Enrico nach Luft schnappte, legte sie hastig ihre Hand über die Augen des Kindes und drehte sich so, dass ihr Rücken den kleinen Jungen vor den restlichen Anwesenden abschirmte.
Benommen den Kopf schüttelnd versuchte Enrico, wieder Herr seiner Sinne zu werden, dann richtete er seinen Blick auf Armand, der angespannt und gleichzeitig ratlos vor ihm stand.
"Was ist geschehen?" verlangte er nun zu wissen, um sich erst einmal ein Gesamtbild verschaffen zu können. Mit einer kurzen Geste bedeutete er seinen beiden Männern, sich zu beiden Seiten Alessios aufzustellen, während er selbst sich vor ihn stellte. Sein Gesicht war zu einer steinernen Maske geworden und immer wieder flog sein Blick zu der Ecke, in der Miriam noch immer mit ihrem Körper das Kind verdeckte.
Armand hob leicht die Hände und ließ sie wieder fallen.
"Ich kann es mir selbst noch nicht erklären, Enrico. Aber ich versichere dir, wir hatten niemals vor, Alessio anzugreifen oder zu verletzen. Es scheint so, als entwickle mein Sohn viel zu früh erstaunliche Fähigkeiten und er kann sie noch nicht kontrollieren. Keiner von uns hat Erfahrung damit, aber glaub mir, es tut mir sehr leid, was geschehen ist." meinte er nun ruhig. Enrico starrte auf Miriams Rücken und schluckte schwer.
"Wie kann das sein? Ich habe einige Kinder aufwachsen sehen, unter anderem auch Alessio. Doch noch nie habe ich erlebt, dass ein Kind in diesem jungen Alter bereits so eine starke Präsenz entwickelt, geschweige denn irgendwelche Fähigkeiten!" widersprach er nun Armand, der erneut hilflos die Hände hob. Sergej meldete sich zu Wort.
"Wir selbst mussten erst einmal begreifen, dass der Angriff von Raoul ausging, Enrico! Sonst hätten wir früher eingegriffen und es verhindert." Die beiden Männer sahen sich an und Sergej hielt geduldig dem prüfenden Blick stand. Eine Weile war nur das Stöhnen Alessios und das vergnügte Glucksen des Kindes zu hören. Schließlich nickte Enrico langsam.
"Wie war der Stand eurer Verhandlungen?" wollte er nun wissen. Einer der Männer hinter ihm stieß ein Knurren aus.
"Wen interessiert das noch? Alessio wurde angegriffen! Von Nefandii!" Seine Stimme bebte vor Zorn und er stierte Armand angriffslustig an. Enrico drehte nicht einmal den Kopf zu seinem Kameraden, doch seine Haltung straffte sich.
"Mich interessiert es, Giovanni! Und ich vertrete nun Alessio!" Seinem Blick war zu entnehmen, dass er nur auf einen Einwand wartete, doch es kam keiner. Nur ein abfälliges Schnaufen war zu hören, doch offensichtlich wagte keiner der beiden Männer einen Widerspruch. Der Respekt, den Enrico sich gerade verschafft hatte, nötigte Armand Respekt ab, den er mit einem kurzen Nicken mitteilte. Enrico als Verhandlungspartner war mehr als er sich hatte erhoffen können.
"Alessio verlangte meinen Sohn als Entschädigung für den Verlust von seiner Schwester und seinem Bruder, falls ich mich nicht eurem Ältestenrat stellen will." fasste er kurz zusammen. Erneut trat eine Pause ein, in der Enrico diese Nachricht überdachte. Er betrachtete Armand nachdenklich, dann senkte sich sein Blick zu Alessio herunter, der sich endlich beruhigte und mit geschlossenen Augen noch immer nach Luft rang. Es hatte den Anschein, als sei das Gehör Alessios massiv beschädigt worden, doch Enrico wirkte nicht allzu beunruhigt. Es würde sich regenerieren, es war nur eine Frage der Zeit. Diese Zeit wollte er für eine Entscheidung nutzen, die er vor seinem Clan würde vertreten müssen. Seufzend drehte er der Gruppe den Rücken zu und stellte sich an das Fenster, durch das er in die Dunkelheit starrte, als läge dort eine Antwort auf seine Fragen.

1 Kommentar:

  1. Und erneut ersetzt Enrico beim Verhandeln seinen Chef. Und erneut bin ich froh, dass er es nun macht.

    Er ist besonnener und hat ja schon einmal gezeigt, dass er die Sache vielleicht anders sieht.

    Und hier gibt es viel zu bedenken. Die Aktionen von Raoul sind wirklich bemerkenswert. Enrico durfte ja selbst gerade eine Kostprobe davon nehmen.
    Nun also muss er diesmal im Angesicht seiner Kameraden verhandeln und entscheiden. Ich bin gespannt wie er da rauskommen will. Aber er hat ja eine deutlich pazifistischere Einstellung als Alessio sie zuletzt hatte.

    Das machts wirklich spannend.
    LG
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.