Freitag, 12. Oktober 2012

Noctambule III: Tee aus Krampfkraut

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

"Hallo? Huhu! Wo seid ihr denn?" Die helle Stimme Jocelyns weckte Armand und Anya sofort. Anya war in Armands Arm eingeschlafen und nun galt ihr erster Blick Sergej und Miriam. Sergej war wach und nickte Anya mit besorgter Miene zu. Während Armand auf die Beine kam und sofort den Unterschlupf verließ, kroch Anya zu Miriam, die noch immer unverändert in Sergejs Armen lag.


Die notdürftigen Verbände an den Handgelenken waren blutdurchtränkt. Miriams Beine hatten schwere Verbrennungen. Von den Füßen bis zu den Oberschenkeln war an großen Stellen die Haut völlig abgelöst und das verbrannte Fleisch nässte. Anya hob besorgt den Blick zu Sergej und sah in seinen Augen Sorge und Trauer.
"Sie glüht vor Fieber." murmelte er erschöpft. Anya nickte stumm und strich über seine Stirn. Auch er hatte Fieber, doch bei ihm war es ein Zeichen für die massive Arbeit seines Körpers, die Selbstheilung seiner Schulter voranzutreiben. Aber Anya erkannte auch, dass ihm in seiner unbequemen Haltung jeder Muskel schmerzen musste. Nichts auf dieser Welt hätte ihn dazu überreden können, Miriam loszulassen, um sich selbst einmal auszustrecken und zu erholen. Anya verstand ihn und lächelte ihm zu.
"Sie wird es schaffen, Sergej. Sie ist stark."
Er hatte keine Zeit zu antworten, denn der Eingang wurde beiseite geschoben und Jocelyn steckte fröhlich den Kopf hinein.
"Schön habt ihr es hier drin." verkündete sie begeistert und kroch herein. Ihre heitere, unbeschwerte Art wirkte trotz der Sorgen ansteckend auf alle. Armand kam mit einem Schmunzeln hinterher und Jocelyn machte seinen langen Beinen Platz.
"Wie gut, dass es heute so wolkig ist und Armand heraus kommen konnte. Ich hätte euch nie gefunden!" meinte sie und zerrte einen Beutel hervor. Dabei warf sie einen besorgten Blick zu Miriam und begann, in ihrer Tasche zuwühlen.
"Wir waren schon fleißig heute Morgen. Maurice sucht noch nach einer Unterkunft für uns alle und ich habe ein paar Sachen für Miriam besorgt." erklärte sie stolz. Doch trotz ihrer eifrigen Freude warf sie immer wieder besorgte Blicke auf die junge Frau in Sergejs Armen, die nicht reagierte, sondern nur leise stöhnte und unruhig den Kopf bewegte.
Anya griff nach dem Wasserschlauch und setzte ihn vorsichtig an Miriams Lippen, die bereits trocken und rissig durch das Fieber geworden waren. Jocelyn musste nicht fragen, wie es Miriam ging. Sie konnte es sehen und die Fröhlichkeit verschwand aus ihrem Gesicht. Sie zog ihren Beutel vor sich und begann darin zu kramen.
"Ich habe eine Kräuterfrau besucht und ihr erzählt, dass meine Schwester sich schrecklich verbrannt hat. Sie sagte, man muss die Verbrennung mit der Salbe hier behandeln. Die ist aus Weinraute und Ringelblumen. Mmmh, und sie duftet so gut. Und dann.. wo ist es nur? Ah.. da!" Stolz zog sie eine kleine Flasche heraus und wedelte damit vor Anyas Gesicht herum. "Das ist Tee aus Krampfkraut. Er schmeckt ziemlich bitter, aber er soll viel besser gegen Schmerzen und Fieber helfen als Weidenrindentee." Sie grinste Anya stolz an und erhielt ein verschwörerisches Lächeln zurück. Beide erinnerten sich an die Zeit, in der Anya schwer verletzt in dem Hausboot lag und Jocelyn auf Anyas Anweisung hin Tee aus Weidenrinde kochte.
"Kannst du sie gleich behandeln?" Sergejs Frage riss die Beiden aus ihrer Erinnerung und Jocelyn räusperte sich eifrig. Schnell holte sie Stoffbahnen aus ihrer Tasche und schraubte den Tiegel mit der Salbe auf.
"Die Kräuterfrau hat mir ganz genau erklärt, was ich tun soll." meinte sie nun in belehrendem Ton und rückte näher zu Miriam heran. Vorsichtig und mit spitzen Fingern zog sie die Fetzen von Miriams Unterrock beiseite. Als sie das verbrannte Fleisch an Miriams Unterschenkeln sah, verzog sie das Gesicht und blickte kurz auf. Sie sah direkt in Sergejs Augen und konnte die verzweifelte Sorge darin kaum ertragen.
Schnell senkte sie den Blick wieder und griff nach der Salbe.
"Anya, bitte gib ihr etwas von dem Tee. Nur zwei, drei Schluck." meinte sie leise und betete, dass er auch wirken musste. Wie schnell seine Wirkung eintreten würde, wusste sie allerdings nicht. Während Anya zu Miriams Kopf rutschte und leise auf sie einredete, damit sie den Mund öffnete, begann Jocelyn mit der Fingerspitze vorsichtig die Salbe auf die Beine zu tupfen. Miriam wimmerte und hatte Mühe, nicht mit den Beinen zurückzuzucken. Sergej drückte ihren Oberkörper fester an sich und streichelte unablässig ihren Kopf.
"Gleich ist es vorbei, Süße. Gleich..." murmelte er immer wieder beruhigend und schloss die Augen, um nicht in die besorgten Gesichter seiner Freunde sehen zu müssen.
"Sie sagte, wir sollen die schlimmsten Stellen nicht verbinden, sondern an der Luft lassen. Und sie sagte auch, dass es sich vielleicht entzünden könnte. Deshalb soll sie viel von dem Tee trinken. Ich kenne die Pflanze, ich werde neuen Tee kochen, sobald ich einen Kessel und Feuer habe." Jocelyn versuchte, zuversichtlich zu klingen und außerdem lenkte das Sprechen sie auch davon ab, sich jedes Mal neu überwinden zu müssen, bevor sie Miriams Verletzungen berührte.
Nachdem sie fertig war, rutschte sie höher und begann vorsichtig, den ersten Verband von ihren Handgelenken zu entfernen. Miriams Finger hingen kraftlos herunter, doch immer wenn Jocelyn versehentlich einen der Finger anstieß, weinte Miriam auf und presste ihr Gesicht noch fester an Sergejs Brust. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten, was erst einmal eine gute Nachricht war. Doch das getrocknete Blut hatte auch den Verbandd verklebt und Jocelyn wurde übel, als sie einen Teil des Schorfs mit abziehen musste.
Nur Anya und Armand konnten sehen, dass Sergej das Gesicht vor Schmerz verzog und die Lippen eisern aufeinander presste. Miriam hatte zwar nur in sein Hemd beißen wollen, um nicht vor Schmerz zu schreien, doch ihre Zähne hatten auch Sergejs Haut erwischt und bissen nun gnadenlos zu.
Endlich hatte Jocelyn auch beide Handgelenke versorgt und neue Verbände angelegt. Sie war verschwitzt und hatte nun das Gefühl, hier drin beinahe zu ersticken, so übel war ihr.
"Ich.. ich gehe neues Kraut sammeln. Jetzt finde ich euch ja wieder." murmelte sie und kroch hastig aus dem Versteck. Stille breitete sich unter den Freunden aus, nachdem Jocelyn hinaus gegangen war.
Aus Sergejs Arm war noch das Wimmern von Miriam zu hören und noch immer streichelte er ihren Kopf zärtlich. Endlich entspannte sie sich wieder etwas und ihre Zähne lösten sich von Sergej, sodass auch er sich entspannen konnte. Als sich in die Stille hinein leise Geräusche des hungrig erwachenden Babys bemerkbar machten, war Anya beinahe erleichtert. Schnell setzte sie sich wieder zu Armand, hob Raoul zu sich und öffnete ihre Brust. Er verstummte sofort, als er die Brust an seinen Lippen spürte und Anya lehnte sich an Armands Brust.
Wieder wurde es still und Miriams Flüstern klang wie ein Schrei in den empfindlichen Ohren der drei Freunde.
"Ich möchte sterben, Sergej. Einfach sterben."

1 Kommentar:

  1. Der letzte Satz klingt so gruselig.

    Kaum vorstellba, was Miriam gerade durchmacht. Verbrennungen an den Beinen und durchlöcherte Hadgelenke klingen schon grausam.

    Und auch wenn der Tee vermutlich natürliche Acetylsalicylsäure enthält, so kann diese Wirkung ja in keinster Weise mit den Schmerzen mithalten, die sie von ihren Verletzungen ertragen muss.

    Jetzt ist es endgültig Zeit die Mädchenträume von einer Hochzeit als Mensch über Bord zu werfen und sie zu erlösen und in den Zustand zu versetzen in dem diese Verletzungen kaum für 48 Stunden Ärger sorgen.

    LG
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.