Montag, 15. Oktober 2012

Noctambule III: Der Wundarzt

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Lucien Carrusse schüttelte sich wie ein nasser Hund, nachdem er das Vordach seines Hauses erreicht hatte und schleuderte seinen Hut hin und her, damit das Regenwasser abtropfen konnte. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und freute sich nur noch auf den Kamin, eine Tasse heißen Tee und danach auf sein Bett.
Als Wundarzt hatte er Patienten aus allen Schichten, doch den größten Verdienst bezog er natürlich aus den Behandlungen der Reichen. Bei ihnen behandelter er ständig irgendwelche Kleinigkeiten wie Zahnprobleme oder Hautreizungen, die durch Perücken, Puder und falsche Ernährung entstanden. Bei den meisten seiner reichen Patienten hatte er wenig Mitleid, denn sie weigerten sich konsequent seine Ratschläge anzunehmen und von ihrem übertriebenem Konsum Abstand zu halten.


Heute jedoch war sein Tag mit ehrenamtlichen Tätigkeiten gefüllt gewesen. Seit einigen Jahren schon hatte er sich den Ruf aufgebaut, einmal in der Woche die Ärmsten der Armen kostenlos zu behandeln und zu helfen, wenn er konnte. An Verdienst war dabei nicht zu denken, wenngleich viele Patienten ihm Lebensmittel als Gegenleistung aufdrängten.
Lucien lächelte zufrieden. Gerade hatte er nach einem langen Tag einem Kind auf die Welt geholfen und sein Leben dadurch gerettet, dass er noch im Mutterleib die Nabelschnur von dem Hals des Babys gewickelt hatte. Noch immer freute er sich an dem ersten Schrei des Kindes, den er mit einem kleinen Klaps provoziert hatte.
Gerade suchte er in seinem Mantel nach dem Hausschlüssel, als eine kräftige Hand sich schwer auf seine Schulter senkte und ihn mit unnachgiebiger Kraft herumdrehte. Lucien jappste erschreckt nach Luft und taumelte gegen seine Haustür. Noch nie hatte er so einen großen Mann gesehen. Dieser Bursche ragte vor ihm in die Höhe, dass er den Kopf zurück legen musste, um das Gesicht zu sehen. Die breiten Schultern verdeckten jede Sicht nach hinten und ein Blick in das bleiche Gesicht des Mannes genügte Lucien schon, um von einem üblen Blutmangel oder einer schweren Krankheit auszugehen.
"Guter Gott, Ihr habt mich erschreckt, Mann! Noch nie was von Ansprechen gehört?" Lucien holte tief Luft und griff sich an die Brust, als könnten seine Hände den heftigen Puls nur durch Handauflegen beruhigen. Doch obwohl Lucien zu seinen Worten ein Lächeln aufsetzte, erwiderte der Hüne diese Geste keineswegs. Das Gesicht blieb maskenhaft starr. Lucien konnte nicht umhin, dieses Gesicht genauer zu studieren. Dieser Mann hatte eine seltsame Schönheit, der sich Lucien nicht entziehen konnte. Nasse, schwarze Haarsträhnen hingen in sein Gesicht, doch die Wassertropfen schien der Fremde nicht einmal zu bemerken. In seiner Laufbahn hatte der Arzt schon unendlich viele Menschen gesehen, doch solchen tiefschwarzen Augen war er noch nie begegnet. Kurz versuchte er sich diesen seltsamen Bann mit der Dunkelheit und dem trüben Wetter zu erklären, dann traf ihn die tiefe, samtige Stimme des Mannes bis ins Mark.
"Verzeiht. Ich brauche Eure Hilfe, Doktor." Lucien holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, seine weichen Knie stabil zu halten. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Immer wieder erklärte er sich das seltsame, starre Gesicht damit, dass dieser Fremde schwere Sorgen zu haben schien. Hinzu kam, dass die Sprache des Mannes äußerst kultiviert war. Doch schließlich erinnerte sich Lucien an das Hilfegesuch und nickte langsam.
"Freilich. Kommt herein und zieht die nassen Sachen aus. Gleich rechts ist mein Behandlungszimmer. Ich hole mir nur schnell einen Tee. Wollt Ihr auch einen?" Er suchte erneut in seinem Mantel nach dem Schlüssel, fand ihn endlich und wollte sich wieder zur Tür umdrehen, als ihn erneut die große Hand stoppte. Das bleiche Gesicht beugte sich weiter zu ihm herunter.
"Nicht für mich. Folgt mir bitte." Lucien vergaß vor Staunen den Ärger über die grobe Behandlung und stieß ein Seufzen aus. Offenbar hatte der Fremde es eilig und so würden sein Tee und der Kamin noch ein wenig warten müssen. Mit einem knappen Nicken und einem erneuten, tiefen Seufzer steckte er den Schlüssel wieder ein und setzte seinen nassen Hut auf.
"Na gut. Erklärt mir auf dem Weg schon einmal, was passiert ist." meinte er lakonisch und betrat die nasse Straße. Die langen Schritte des Fremden zwangen ihn fast in einen Dauerlauf, doch er hielt das Tempo dank seiner guten Kondition recht mühelos. Außerdem wollte er selbst schnell wieder ins Trockene, egal ob es nun sein eigenes Haus war oder das eines Patienten.
"Ihr Kleid hat Feuer gefangen und ihre Beine sind verbrannt." berichtete der Fremde knapp. Lucien ertappte sich dabei, dass er diese Stimme gerne hörte und warf einen neugierigen Blick zu seinem Begleiter hinauf. Doch der starrte geradeaus und schien sich gar nicht um ihn zu kümmern.
"Eure Frau?" fragte Lucien aus reiner Neugier. Verbrennungen als Folge von Unachtsamkeit beim Kochen waren nicht selten und überraschten ihn daher nicht sonderlich.
"Außerdem sind ihre Handgelenke schwer verletzt." Lucien runzelte die Stirn. Der große Bursche war überhaupt nicht auf seine Frage eingegangen. Lag das nun an seiner Sorge oder wollte er nicht darauf eingehen? Im Grunde ging ihn das Verhältnis zu der Frau auch gar nichts an. Doch wie passten nun schwere Verletzungen an den Händen zu den Verbrennungen an den Beinen?
"Auch verbrannt, weil sie die Flammen ausschlagen wollte, vermute ich?" Lucien schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge.
"Seht es euch einfach an und behandelt es!" Lucien war Befehle dieser Art nicht gewohnt. Diesen Mann kannte er nicht. Normalerweise aber war allgemein bekannt, dass er einmal in der Woche kostenlos für die Armen da war und oft wurde er von alten Bekannten gerufen. Dieser Mann musste neu in der Stadt sein. Vielleicht hatte man ihn ihm empfohlen. Lucien beschloss, sich die häuslichen Verhältnisse gut anzusehen und dann zu entscheiden, ob er in diesem Fall ein Honorar verlangen würde. Und wenn man ihn bezahlte, konnte man sich auch diesen Ton erlauben, beschloss Lucien.

1 Kommentar:

  1. Ein Arzt der die Reichen behandelt muss schon über gewisse Qualitäten verfügen. Und ich bin sicher, Armand hat sich nach dem besten erkundigt.

    Und nun wird also der Stararzt des frühneuzeitlichen Marseille die arme Miriam behandeln. Hoffen wir, dass er entsprechend Hoffung machen kann. Die Ratschläge der damaligen Ärzte gingen ja leider oftmals über das nicht hinaus, was wir heute als Hausmittelchen bezeichnen würden.

    Doch nicht zu vorschnell. Vielleicht hat der Mann ja noch etwas inpetto. Vornehmlich wäre ein Schmerzmittel sicherlich sehr hilfreich.

    Und was sein Honorar angeht? Ich denke er muss sich keine Sorgen machen, etwas abzubekommen :) Und ich bin auch sicher, das er seine Bemühungen icht mit dem Leben wird bezahlen müssen.

    LG
    Joe

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