Dienstag, 22. Februar 2011

Noctambule: Gerade noch rechtzeitig

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

Sergej rannte, so schnell er konnte, aber auch er musste hin und wieder eine Pause einlegen, um Kraft zu schöpfen. Das Gewitter hatte den Boden aufgeweicht. Der leichte Nieselregen, der jetzt noch herunterkam, durchnässte ihn langsam aber stetig. Nur ein einziges Mal hatte er Armands Ruf klar und deutlich vernommen. Das war noch nie vorgekommen. Armand musste in einer bösen Klemme stecken, dass er nach so vielen Jahren nun doch zu dieser Maßnahme gegriffen hatte.
Das alleine war schon alarmierend genug. Aber Armands zweites Signal war wesentlich schwächer gewesen. Sergej konnte sich keinen anderen Reim darauf machen, als dass Armand verletzt sein musste. Warum, wo und wie, das konnte er nicht erkennen. Es gab nur die Möglichkeit, es selbst herauszufinden. Tiefe Sorge beflügelte sein Tempo.


Als er Marseille erreichte, öffnete er sein Bewusstsein obwohl er wusste, dass er nun für jeden erfahrenen Vampir zu finden war. Er suchte eine Spur von Armand, die ihn zu ihm führen konnte. Zwar schlug er als erstes den Weg zu Armands Haus ein, aber war sehr schnell sicher, dass sein Freund nicht dort war. Ohne zu zögern spurtete er weiter. Seine Lungen brannten inzwischen und sein Atem ging pfeifend. Zum ersten Mal seit vielen Jahren spurte er seine Muskeln brennend und bebend.
Aber er hatte genug Luft, um in regelmäßigen Abständen zu fluchen. Er konnte Armand einfach nicht mehr aufspüren. Seine Sorge machte ihn wahnsinnig. Wo, zum Teufel, sollte er seinen Freund suchen? Am Hafen setzte er sich auf eine leere Bank und grübelte. Armand konnte überall sein. Anya würde eventuell wissen, wohin es Armand zu Beginn des Abends verschlagen hatte. Sollte er doch noch mal zu Armands Haus gehen und sie befragen? Er schlug sich diesen Plan aus dem Kopf. Er müsste Anya aus dem Bett trommeln, sie befragen und hatte dann auch noch eine hysterische Frau am Hals. Außerdem kostete das zuviel wertvolle Zeit. Oder doch nicht?
Er beschloss, Marseille spiralförmig abzusuchen. So enorm groß war die Stadt nun auch nicht, als dass er sie nicht schnell durchsucht hatte. Er brauchte nur ein System. Hastig spurtete er los mit einem besorgten Blick zum Himmel. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr bis zum Morgengrauen.
Eine Stunde später blieb er plötzlich stehen und hob lauschend den Kopf. Er hatte Armand! Er konnte ihn spüren. Aber verdammt schwach! War Armand gar nicht in Marseille? Er befand sich nun schon im fünften Vorort der Stadt und Armands Signal war immer noch so zaghaft. Egal, er hatte ihn. Zielstrebig rannte er los, vorbei an den wenigen Häusern, die immer einfacher und bäuerlicher wurden und in immer größeren Abständen auftauchten.
Die Menschenansammlung, in die er beinahe hineingerannt wäre, alarmierte ihn nun vollständig. Dicht zusammen gedrängt und aufgeregt debattierend standen drei Männer beisammen, Panik in den Stimmen. Mit tiefen Atemzügen versuchte Sergej sich zu sammeln und ordnete seine Kleidung, bevor er wie ein zufälliger Nachtspaziergänger auf die Gruppe zuschlenderte.
Innerlich wappnete er sich dagegen, in das tote Gesicht seines Freundes zu sehen.


"Seht Euch das mal an!"
"Das ist brutal! Sowas tut doch kein Mensch!"
"Wer oder was denn sonst?"
"Das ist doch Povignans!"
"Heiliger Vater, ich muss kotzen!"
Sergej schob sich durch die Männer und starrte entgeistert auf die Leiche vor sich. Er erkannte den Herzog sofort wieder. Unnatürlich verrenkt lag er in einer Pfütze, die sich von seinem Blut rot gefärbt hatte. Sergej musste schlucken. Die Leiche dort erschreckte ihn nicht sonderlich. Er konnte sich nur nicht vorstellen, dass dies ein Werk Armands gewesen war. Hier hatte ein anderer Vampir gewütet.
Sergejs Augen huschten suchend über den Boden und entdeckten sofort die kaum noch zu erkennende blutige Schleifspur, die gerade von den herumstehenden Menschen zertrampelt wurde. Sein Herz schlug höher. Scheinbar angewidert wandte er sich ab und verließ die Menge mit gesenktem Kopf, um hastig weiter zu gehen. Eine Hand klopfte mitfühlend auf seine Schulter.
"Übel, was? Mir ist auch schlecht geworden." Sergej nickte stumm, umrundete die Gruppe und suchte die Spur erneut. Er hatte sie verloren. Aber die Richtung war klar. Schnell, aber angesichts der Menschen hinter ihm lediglich hastig und nicht mit der Geschwindigkeit, die ihm jetzt lieber gewesen wäre, steuerte er auf einen Unterstand zu, in dem geschlagenes Holz zum Trocknen aufgestapelt worden war. Jetzt war er sicher, wo Armand war.
Nach einem kurzen Blick über die Schulter hatte er sich vergewissert, dass niemand auf ihn achtete. Unbemerkt glitt er hinter den mannshohen Holzstapel und erschrak heftig.
Armand hatte sich wohl mit letzter Kraft hier her geschleppt und zwischen zwei Stapeln Holz Schutz gesucht. Seine Hände lagen auf seinem Bauch, wo er versucht hatte, die Blutung durch Pressen zu stoppen, bis er das Bewusstsein verloren hatte. Inzwischen hatten die Wunden tatsächlich aufgehört zu bluten, wie Sergej beruhigt feststellte, als er neben Armand niederkniete und vorsichtig die blutigen Hände wegzog.
Dennoch verzog er schmerzlich das Gesicht. Jemand hatte Armand mit einer Stichwaffe verletzt und die Wunde auch noch vergößert. Die Wundränder waren zerfetzt und verkrustet. Eine kurze Untersuchung bestätigte Sergej, wie tief die Verletzungen wirklich waren. So gut die Selbstheilung der Vampire auch war, dies hier würde sich nicht so einfach schließen. Dafür war es zu tief.

Während Sergej einen Blick auf die Wunden warf, tasteten seine Finger nach Armands Puls. Erleichtert fand er ihn. Schwach, aber regelmäßig. Armand hatte viel Blut verloren. Am Schlimmsten mussten die Schmerzen gewesen sein. Sergej lehnte sich nachdenklich gegen das Holz und sah sich um.
Sicher war dieser Unterschlupf keineswegs. Jeder, der um die Stapel herumgehen wollte, konnte Armand hier entdecken. Die nächste Gefahr war das anbrechende Tageslicht. Die Überdachung reichte nicht aus, um beide vor dem Licht zu schützen. Aber wie sollte er Armand unbemerkt wegbringen?
Vorsichtig schob er seinen Kopf über die Holzstämme und beobachtete die Männer. Zu seiner Erleichterung beschlossen sie gerade, einen Viehwagen zu besorgen, um die Leiche zur Garde zu bringen. Einer wollte solange hier bleiben und Wache halten. Das war gut. Einen konnte er problemlos manipulieren.
Ungeduldig wartete er, bis sich zwei Männer verabschiedeten und versprachen, so schnell wie möglich wieder zu kommen. Der dritte sah ihnen hinterher und hockte sich dann mit dem Rücken zu den Vampiren abwartend auf den Meilenstein neben der Straße. Das war Sergejs Chance. Vorsichtig schulterte er seinen Freund und verzog das Gesicht dabei. So ein großer Kerl hatte einiges an Gewicht. Taumelnd verließ er den Unterschlupf und brauchte einige Schritte, bis er den Takt gefunden hatte, zügig mit seiner Last im Schatten der Nacht unterzutauchen.

1 Kommentar:

  1. So ein Stress für den Sergje und der weiß immer noch nicht was passiert ist ... aber wer wird es schon noch raus finden, wenn Armand stock sauer zur Besinnung kommt

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.