Mittwoch, 14. September 2011

Noctambule II: Über den Dächern von Marseille

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Anya war aus dem Fenster gesprungen und hatte sofort die Arme ausgebreitet. Die Geste genügte schon. Joscelin ließ sich einfach hinaus fallen und wurde von Anya aufgefangen. Ohne sich weiter umzusehen zerrte sie das Mädchen hinter eine der Kisten und stieß dabei gegen ein Fass.
Der hohle Klang ließ sie erleichtert aufatmen. Sie hob das Mädchen in die Tonne und kletterte hinterher. Das Bündel mit den Kleidern schüttelte sie auseinander und verteilte sie über sich. Als sie sich eng neben Joscelin zusammenkauerte spürte sie an ihren nackten Füßen matschigen Unrat und erst jetzt kam ihr auch der gammelige Gestank in die Nase, der ihr sofort Übelkeit bereitete.


Als Joscelin sich wimmernd an sie drückte, zwängte sie ihren Arm um das zitternde Kind und drückte sie an sich.
"Pst!" mahnte sie leise und atmete durch den Mund, um den Gestank leichter ertragen zu können. Nur dumpf gelangten die Geräusche zu ihnen in die Tonne. Als Schüsse ertönten, zuckten beide zusammen, aber das Mädchen begann zu weinen. Hastig legte Anya eine Hand auf ihren Mund.
"Leise!" wisperte sie. Joscelin bemühte sich, ihre schluchzenden Laute zu unterdrücken. Sie bebte am ganzen Leib und wenn Anyas Hand nicht über ihrem Mund gelegen hätte, wäre ihr Zähneklappern zu hören gewesen.
Anya schloss die Augen. Sie roch das Blut, das auf dem Hals des Mädchens trocknete und ihre Gier schien fast übermächtig zu werden. Es wäre so einfach, das Mädchen jetzt zu töten, aber sie brachte es nicht über sich. Vielleicht war es ja sogar sinnvoll, eine Mitwisserin zu töten. Aber Sergej hatte ihr eingeschärft, Kindern nichts zu tun und jetzt, wo sie selbst ein Kind erwartete, war der Widerwille sogar noch gestiegen.
Es wurde still. Gedämpft hörte sie etwas poltern und gebellte Befehle. Sie fragte sich, warum sie nicht früher auf die Idee gekommen war, einfach hier hinten hinaus und über die Dächer zu fliehen. Wie dumm und unlogisch man doch manchmal in einer Notlage handelte. Aber sie hatte George überrumpelt und hätte es beinahe auch noch geschafft, ihn zu töten. Dieses Gefühl verdrängte den Ärger über die verpassten Fluchtchancen und löste einen gewissen Stolz auf sich aus.
Noch lange blieb sie in der Tonne kauern, bevor sie es wagte, die Kleider über sich beiseite zu schieben und gierig frische Luft zu schnappen.
Langsam schob sie den Kopf über den Rand des Fasses und sah sich um. Das Haus vor ihr lag im Dunklen. Offenbar war das Kaminfeuer gelöscht worden oder die Soldaten hatten ordentlich die Zimmertür geschlossen, sodass kein Lichtschimmer herüber schien. Aber das konnte sich Anya nicht vorstellen.
Vorsichtig sammelte sie die Kleider wieder zusammen, bevor sie noch wirklich schmutzig wurden und kletterte aus dem Fass hinaus. Mit einem kleinen Lächeln, wobei sie darauf achtete, ihre Zähne nicht zu zeigen, reichte sie Joscelin die Hand und half ihr hinaus.
Das Mädchen blieb einfach wortlos stehen und betrachtete sie, was Anya ihre Nacktheit verdeutlichte. Hastig wühlte sie in dem Bündel nach einem Hemd und einer Hose. Die Sachen waren wieder einmal viel zu groß für sie und damit die Hose wenigstens halbwegs oben blieb, zog sie das lange Hemd über die Hose und verknotete es fest vor dem Bauch. Dann breitete sie die Arme aus und sah Joscelin an.
"Voilà!" meinte sie und sah das Mädchen zum ersten Mal für eine Sekunde lächeln. Dann erstarrte das kleine, von Schminke verschmierte Gesicht wieder. Anya ließ die Arme fallen und seufzte. Sie warf sich den Umhang um und klemmte die restlichen Kleidungsstücke unter den Arm.
"Wir müssen hier raus, Joscelin. Dann sehen wir weiter, ja?" meinte sie und strich ihr über die Wange. Das Mädchen sah stumm zu ihr auf und nickte schließlich. Sie schwieg beharrlich weiter, aber ihre Augen wanderten über die Hausfassade nach oben und Anyas Blick folgte ihr. Sie verstand.
"Schaffst du das?" vergewisserte sie sich. Wieder nickte Joscelin still und ließ zu, dass Anya die Hand um ihre Schultern legte, während sie auf die Hauswand zu gingen.
"Du kletterst zuerst. Falls du herunterfällst, kann ich dich auffangen." meinte sie freundlich. Joscelin betrachtete noch einmal die Wand und raffte ihre beiden Röcke hoch, um mehr Beinfreiheit zu haben. Während sie kletterte, ließ Anya sie nicht aus den Augen und rieb verstohlen ihre schmerzenden Handgelenke. Aber das Mädchen war erstaunlich geschickt. Sicher war das nicht ihre erste Klettertour, auch wenn das letzte Stück auf das Dach Anya kurz den Atem anhalten ließ.
Aber schließlich wartete Joscelin auf sie und sie sprang behände die Hauswand hinauf zu ihr. Das Mädchen starrte sie verwundert an und rieb sich dann blinzelnd die Augen. Anya ließ ihr keine Zeit, sich noch weiter zu wundern, sondern deutete über die Dächer.
"Du kennst dich hier besser aus. Wir brauchen einen Unterschlupf. " Joscelin starrte Anya noch immer verwundert an. Sie sprach noch kein Wort, schien aber eine Entscheidung getroffen zu haben. Geschickt lief sie vor Anya über die Dächer bis es nicht mehr weiter ging. Anya half dem Mädchen, von dem Dach herunter zu kommen, indem sie zuerst sprang und sie dann auffing. Beide rannten durch die nächtlichen Straßen des Hafenviertels, wobei Joscelin genau zu wissen schien, wohin sie wollte.
Ein altes Lagerhaus war schließlich ihr Ziel. Joscelin lief an dem großen Haupttor vorbei hinter das Gebäude und zog dort eine Holzlatte zur Seite, die unauffällig zwischen den anderen an nur einem Nagel hing. Aber auch die Nachbarlatte war lose und die beiden schlanken Frauen konnten sich hindurch zwängen.
Innen war es dunkel. Es roch nach Staub und altem Holz. Anyas empfindliche Augen konnten erkennen, dass hier schon lange nicht mehr gearbeitet wurde. Einige Pfützen zeugten von einem undichten Dach und die hölzerne Zwischenebene, die man zu Lagerzwecken eingezogen hatte, wirkte morsch und brüchig.
Joscelin führte Anya zu einer kleinen Nische, in der sie gebündeltes Stroh und eine Decke erkannte. Hier plumpste das Mädchen auf ihre vier Buchstaben und klopfte auffordernd neben sich.
"Ist das dein Geheimversteck?" fragte Anya schmunzelnd und krabbelte neben Joscelin, die nickte und sich an sie schmiegte. Wieder legte Anya den Arm um sie und lehnte sich erschöpft an die Wand. Das Mädchen griff zu der Decke und warf sie über sich und ihre neue Freundin. Anya zog die Decke zurecht und streichelte Joscelins Schulter, während sie dem einsetzenden leisen Weinen lauschte, das bei dem Mädchen einsetzte. Sie seufzte und ließ das Mädchen weinen. Sie musste den Schock verarbeiten.
Anya schloss die Augen und entspannte sich nur mühsam. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wo George sich gerade aufhalten mochte. Das hatte Zeit bis zur nächsten Nacht. Aber dann musste sie unbedingt jagen, sonst würde sie selbst über das Mädchen in ihren Armen herfallen, weil sie sich nicht mehr beherrschen konnte.

1 Kommentar:

  1. Tja - Ich hatte mich ja schon länger gefragt, warum Anya sich nicht einfach davonstiehlt, als George sie allein gelassen hatte. Aber, wie schon richtig bemerkt. Manchmal sieht man den Wald vor Bäumen nicht.

    Es ist doch immer noch Nacht. Man kann doch sicherlich irgendwo ein Opfer finden? Eine Stadt wie Marseille sollte doch sicher etwas für Sie bereit halten.

    Interessant aber, dass sie nicht erwägt direkt zu Armand zurückzukehren. Hat sie das also gar nicht vor? Anyaaaaaaaaaa

    Liebe Grüße
    Joe

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