Samstag, 24. September 2011

Noctambule II: Betörender Augenaufschlag

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Ein kurzer, abschätzender Blick genügte Anya schon, um den richtigen Anlauf zu nehmen. Sie brauchte nur ein paar Schritte, dann segelte sie bereits durch die Luft und landete auf beiden Füßen auf dem Holzboden des Bugs. Sie war nicht gerade leise aufgekommen und vermutete, dass der Mann bereits aufgestanden war, denn sein Lied war verstummt. Stille lag über dem Hausboot.
Gelassen richtete sie sich aus der Hocke auf und sah sich zufrieden um. Das leichte Schwanken des Schiffes störte sie überhaupt nicht. Sie hatte Zeit genug gehabt, sich die viel zu weite Hose, die sie von George mitgenommen hatte, enger zu nähen. So passte nun auch das Hemd halbwegs, das sie in die Hose gestopft hatte. Die Rüschen an Manschetten und der Knopfleiste waren nicht mehr so locker und luftig wie bei einem frischen Hemd, aber das störte sie nicht. Sie schüttelte sie einfach immer wieder etwas zurecht und grinste insgeheim über die aufbauschende Wirkung bei ihren Brüsten.

Sie hatte sich gerade über das Geländer gebeugt, um zum Wasser hinunter zu sehen, als sie seine Schritte hinter sich hörte und langsam zu ihm umdrehte. Ruhig wartete sie ab, bis sich seine Verblüffung legte. In der Hand hielt er einen Knüppel, den er sich bei dem Geräusch ihrer Landung geschnappt haben musste. Dieser Knüppel sank langsam herunter, parallel mit seinem Unterkiefer.
Er hatte wohl alles erwartet, nur keine zierliche Frau, die barfuß in Männerkleidung auf seinem Hausboot stand und sich in aller Ruhe das Wasser betrachtete. Dazu kam, dass ihr blasses Gesicht eine seltsame Schönheit besaß und eine fast magische Anziehungskraft. Dass sie nun auch noch lächelte, ließ ihn völlig vergessen, sich über den weiten Sprung zu wundern.
"Schönes Boot." Ihre sanfte Stimme brachte ihn zum Blinzeln. Erst nach mehrfachem Schlucken konnte er antworten, nicht ohne ein Nicken vorauszuschicken.
"Ja." krächzte er. Seine eigene Stimme brach den Bann, denn sie war so rau und laut, dass sie überhaupt nicht in das Bild passte, das sich vor ihm aufgebaut hatte. Erschrocken über seine eigene Stimme räusperte er sich noch einmal.
"Wie.. wie konntet Ihr hier her springen? Wa..Warum habt Ihr nicht gerufen?" Anya zuckte mit den Schultern und legte den Kopf schief, während sie sich bequem an das Geländer lehnte.
"Ich habe angenommen, dass Ihr mich nicht herübergelassen hättet." antwortete sie und es klang überaus ehrlich. Der Mann nickte, schüttelte hastig den Kopf und hielt ratlos inne. Welcher Idiot würde so eine Frau abweisen? Er mit Sicherheit nicht.
Er konnte in der Dunkelheit nicht genau erkennen, welche Augenfarbe Anya hatte, aber die Art, mit der sie ihn ansah, war so betörend, dass er nirgendwo anders hinsehen wollte. Er bemerkte das leise Mitleid nicht, dass darin aufglomm, als sie nun die Arme vor sich verschränkte.
"Lebt Ihr alleine hier?" Vielleicht hätte er auch genickt, wenn es anders gewesen wäre, aber seine Antwort kam schnell und unüberlegt. Anya war erleichtert.
"Ihr könnt hier bleiben, wenn Ihr wollt. Sucht Ihr eine Unterkunft?" Ihm war der Knüppel in seiner Hand wieder eingefallen und er versteckte ihn hastig hinter seinem Rücken. Als Anya sich nun vom Geländer abstieß und mit geschmeidigen Schritten auf ihn zu ging, schluckte er trocken. Die wildesten Fantasien gingen mit ihm durch und ein breites Grinsen ging über sein Gesicht.
"Oh ja. Die suche ich wirklich." raunte sie in sein Ohr, als sie vor ihm stand. Es war keine besondere Kunst, größer zu sein als sie. Sie reichte gerade zu seiner Schulter und ihre kleinen Nasenflügel bebten entzückend, als sie zu ihm aufsah.
Längst hatten seine Gedanken nur noch eine Richtung und ihr Augenaufschlag war so berauschend, dass er sich anstrengen musste, sie nur sanft an den Armen zu berühren und nicht sofort zuzupacken. Er konnte das leise Aufglühen in ihren Augen nicht erklären, sicher war es nur eine Sinnestäuschung. Es war auch egal. Dass sie Hosen trug, war plötzlich auch völlig unwichtig. Er beugte den Kopf zu ihr herunter und sie neigte ihren leicht zur Seite.
Dann ging alles sehr schnell. Sein Schock erreichte ihn, als es schon zu spät war und ihr Biss bereits begann, Glückshormone freizusetzen und den Schmerz damit zu überdecken. Das frische Adrenalin machte Anya gierig. Er taumelte rückwärts an die Wand, der Knüppel polterte zu Boden und nach kurzer Zeit gaben seine Beine nach.
Sein Stöhnen verhallte ungehört über dem Wasser. Als Anya sich atemlos zurückzog und erleichtert durchatmete, spürte er bereits nichts mehr.
Anya war zufrieden mit sich. Sie wurde immer besser mit ihrer Jagd und ihre Opfer spürten so gut wie nie Schmerz, wenn sie sich Mühe gab. Sie packte den Toten unter den Schultern, schleifte ihn zur Reling und warf ihn über Bord. Das Wasser würde die Leiche abtreiben und niemand würde ihn wieder erkennen, wenn er überhaupt jemals gefunden würde.

1 Kommentar:

  1. Ob sich Anya da nicht täuscht, was Wasserleichen angeht? Oft genug tauchen sie doch gerade an den unpassendsten Stellen wieder auf.

    Aber damit hat die junge Dame jetzt jedenfalls eine schöne Unterkunft ergattert. Hoffen wir nur mal, dass den Mann nicht allzu viele Leute demnächst vermissen und es unangenehme Nachforschungen bei der neuen Besitzerin des Hausbootes gibt. Schließlich kann auch ein Einsiedler vor den Toren Marseilles nicht vollkommen ohne soziale Bindung ausgekommen sein. Oder doch?


    Vielleicht sollte sie direkt mal einen neuen Anstrich und einen Liegeplatz in Erwägung ziehen.

    Kommt die kleine Joscelin denn nun mit auf das Boot? Übt Anya an ihr schon mal das Mutterdasein?

    Liebe Grüße
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.