Mittwoch, 15. Dezember 2010

Noctambule: Manieren

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule

"Das darf natürlich niemand wissen. Wenn Papa das erführe! Oh, jetzt verstehe ich! Er muss etwas ahnen. Weißt du noch, wie er in der Oper nachfragte, ob du seine Nichte bist? Schreckliche Oper übrigens." Sie schüttelte sich kurz, war aber sofort wieder bei der Sache.
"Ich kann so schlecht lügen." murmelte Anya. Sie fühlte sich neben der lebhaften Miriam mit ihrer blühenden Fantasie wie ein kleines, unscheinbares Mauerblümchen. Gott sei Dank war heute Morgen noch nicht viel los auf der Promenade, sodass Miriam sich völlig auf ihre neue Freundin konzentrieren konnte.

"Wir müssen uns etwas überlegen. Du könntest seine Haushälterin sein. Nein, Unfug! Dein reicher Armand würde niemals seine Hausdame ausführen. Hm.. dann bist du eben seine Schwester!" Anya stutzte. Damit würde sie sich auf die gleiche Stufe wie Armand stellen. Dieser Gedanke kam ihr extrem unverschämt vor. Das stand ihr doch gar nicht zu!
"Aber ich habe einen anderen Namen. Dein Vater weiß das." wandte sie ein.
"Dann bist du eben verwitwet. Das ist noch viel besser. Eine Witwe darf bei ihrem Bruder leben und das ganz ohne Anstandsdame. Oh, wunderbar! So machen wir das. Nun müssen wir uns nur noch überlegen, wer wohl dein armer, verstorbener Mann war. Woran ist er wohl gestorben? Oh, guten Morgen Madame!" Miriam machte einen flüchtigen, aber höflichen Knicks in Richtung einer älteren Dame, die mit einem hochmütigen Nicken an Miriam vorbei ging. Anya wurde so streng gemustert, dass sie vor Schreck überhaupt nicht grüßte.
"Das war die Herzogin von Bésans. Und du siehst sie nur an. Wie frech!" kicherte Miriam erschreckt. Anya hielt die Luft an.
"Ich habe keine Ahnung, wie ich mich benehmen muss." hauchte sie und erhielt einen freundschaftlichen kleinen Klapps von Miriam auf den Arm.
"Ich sehe schon, ich muss dir Manieren beibringen, du Landei!" lachte sie hell. Zum ersten Mal lachte Anya mit. Sie war grenzenlos erleichtert darüber, dass Miriam sie nicht sofort verstoßen hatte. Aber Miriam roch ein Abenteuer und dachte gar nicht daran, diese Würze aus ihrem tristen Leben zu werfen.

Der Spaziergang wurde mit einem Besuch im stadtbekannten Café Le Grand erweitert, wo Miriam Anya zu einem Eis einlud. Bei der schicklichen Portion von zwei Kügelchen wunderbarem Fruchteis erfuhr Anya, dass eine Comtesse kein Bargeld benötigte. Die Rechnung würde am Monatsende selbstverständlich an den Herrn Papa übersandt und beglichen werden.
Miriam futterte grazil ihr Eis und zeigte Anya kichernd, dass man den Eislöffel nicht so schrecklich überfüllte.
"Das ist keine Schaufel! Nur die Löffelspitze!"
"Aber dann schmilzt das Eis bis ich fertig bin!"
"Deshalb sind es ja auch nur so kleine Portionen." Das Café begann sich zu füllen und Anya war froh, dass sie es verließen, bevor neue Bekannte Miriams auftauchten, denen sie vorgestellt werden würde. Sie hatte das Gefühl, als würde sie mit ihrem tölpelhaften auftreten meilenweit auffallen wie ein bunter Paradiesvogel. Miriam beruhigte sie.
"Du fällst nur auf, weil du so schön bist! Ach, kein Grund rot zu werden. Du bist wunderschön! Und deine Bewegungen! Die sind einfach hinreißend. Hast du nicht bemerkt, dass ich die ganze Zeit versuche, so zu laufen wie du?"
Anya hatte es nicht bemerkt. Sie war viel zu sehr damit beansprucht, Miriams Wissbegier zu stillen. Und Miriam wollte alles wissen. Am spannendsten fand sie, dass Anya einmal eine Magd gewesen war, seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatte und schließlich die Geliebte eines so geheimnisvollen Mannes geworden war.
"Wirklich, ich finde deinen Armand unendlich interessant! Diese Augen! Und diese Bewegungen! Bei seiner Größe sollte man meinen, er wäre ungelenk, aber er erinnert mich ständig an ein Raubtier." hauchte Miriam mit fasziniertem Schaudern. Anya schmunzelte. Wenn Miriam wüsste, was er wirklich ist! Aber Miriam strahlte Anya nur an.
"Und du hast dieses Raubtier gezähmt!" Sie kicherte und betrachtete Anyas Halsband.
"Ist das die neueste Mode aus Paris?" fragte sie interessiert. Anyas Hand fuhr zu ihrem Hals. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht! Sie wurde knallrot und ihr Herz setzte einen Moment aus.
"Das.. ja… das hat mir Armand geschenkt." hauchte sie und wich Miriams Blick aus. Aber Miriam jauchzte.
"Wie schön! Es gefällt mir! Und das sind deine Initialen! Eine tolle Idee. Ich muss Papa sagen, dass er mir auch eines bestellen soll." beschloss sie. Anya starrte sie sprachlos an. Aber Miriam schlenderte bereits fröhlich Richtung Kutsche. Und Anya war schlichtweg überfordert. Gerade eben schien sie eine neue Mode kreiert zu haben ohne es zu beabsichtigen.

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