Sonntag, 30. September 2012

Noctambule III - Rückblick: Das Urteil

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Die große Faust, die Jérômes Hemd packte, ließ ihn zusammenzucken. Er selbst hatte unglaubliche Kräfte, doch die Leichtigkeit, mit der diese fremde Gestalt ihn nun am Hemd hochzog, schockierte Jérôme zutiefst. Sein Hemd war dem Zug nicht gewachsen und riss unter den Armen auf. Jérôme fühlte, wie er von der Hand blitzschnell am Hals gepackt wurde. Seine Kehle wurde zugedrückt und er versuchte sich mit wackligen Beinen hoch zu stemmen, um dem Druck zu entgehen. Er hörte sein eigenes Winseln und spürte, wie seine Augen hervor quollen.

Dann ließ der Druck endlich nach, doch die Hand blieb warnend an seinem Hals. Jérôme kam gar nicht auf die Idee, sich mit Faustschlägen zu wehren. Dazu fehlte ihm ohnehin jede Kraft in seinen übersäuerten Muskeln.
"Kommen wir zu der Demütigung." schnurrte die Stimme dunkel an seinem Ohr. Jérôme schüttelte flehend den Kopf und hob mit Anstrengung seine Hände, um die Faust von seinem Hals zu lösen, doch blieb das Gefühl, gegen einen Arm aus Stahl anzukämpfen. 


Er hörte Stoff reißen und spürte die kühle Nachtluft an seinem verschwitzten Oberkörper. Der Fremde hatte das Hemd mit einer Hand weggerissen und packte nun die Hose. Rücksichtslos drückte er Jérôme mit der Faust am Hals gegen die Mauer und riss die Hose in Fetzen. Jérôme wimmerte flehend. Er war splitterfasernackt bis auf die Schuhe, an denen einige Stofffetzen hingen. Der schwere Ledergürtel war über den fetten Bauch gerutscht und hing nun auf den Füßen. Wieder näherte sich das blasse Gesicht dem seinen und erneut glühten die Augen auf.
"Ich denke, du wirst sterben. Aber du darfst versuchen zu fliehen. Lauf!" Die Hand verschwand von Jérômes Hals, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Seine Knie schlugen aneinander, er drohte auf die Knie zu sacken. Ungeduld flackerte in dem bleichen Gesicht auf. Dann veränderte sich das Gesicht plötzlich. Jede Schönheit war verschwunden, Mordlust glühte in den Augen auf, der sinnliche Mund wurde zu einem furchtbaren Maul mit grausamen Reißzähnen. Sie schnappten dicht vor seiner Nase mit einem hässlichen Laut zusammen.
Jérôme schrie. Warm rann sein Urin an seinen Beinen herunter. In einem Reflex war er sich zur Seite und stolperte über den Gürtel, der wie eine Schlinge um seine Füße gelegen hatte. Sein nackter Körper krachte auf die Straße, kleine Steinchen rissen seine Haut auf.
Zappelnd befreite sich Jérôme aus dem Gürtel, rappelte sich hoch und begann zu rennen. Ihm fehlte die Luft und das ängstliche Kreischen fand nur in seinem Kopf statt. Nackt rannte er durch die Nacht, mitten durch Pfützen hindurch und bereits nach wenigen Metern bis zur Hüfte mit Schmutz bespritzt. Sein Körperfett bebte bei jedem Schritt, er schwankte zwischen Scham und Todesangst. Als er einen Mann am Ende der Straße sah, wurde er zielstrebiger und verlor seine Scham.
Statt Hilfeschreien kamen nur winselnde Laute aus seinem Mund, als er fuchtelnd auf den Mann zu rannte. Er erkannte das ungläubige Staunen des Fußgängers, das in Widerwillen umschlug, als er näher kam.
"Hilf mir!" kreischte Jérôme endlich mit letzter Kraft und versuchte sich an dem Mann festzuhalten. Doch der wich ihm angewidert aus und stieß ihn zurück.
"Scher dich weg, du Irrer!" Jérôme konnte es nicht glauben, doch erneut wurde er weggestoßen und ruderte Halt suchend mit den Armen. Fassungslos starrte er dem Mann hinterher, der nun selbst die Flucht ergriff, aber vor ihm.
"Schrecklich. Niemand will dir helfen." Jérômes Kopf jagte herum. Er blickte in das höhnisch grinsende weiße Gesicht des Teufels, schrie und rannte. Längst hatte er jede Orientierung verloren. Seine Beine hatten kaum noch Kraft, seine Lungen brannten und Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln. Als er um eine Ecke bog, rannte er gegen die breite Brust des großen Fremden. Er begriff nicht, wie es möglich war, überholt zu werden, ohne etwas zu sehen. Doch er hinterfragte das auch nicht weiter, sondern drehte einfach um und rannte weiter.
Ihm war nicht klar, dass er auf subtile Weise aus der Stadt getrieben wurde. Wann immer er abbog und vor sich diese schreckliche Fratze sah, machte er kehrt und wählte einfach eine andere Richtung.
Dann konnte er nicht mehr. Rote Punkte tanzten vor seinen Augen, Lichtblitze blendeten ihn und er erkannte den Weg nicht mehr. Hatte er eben noch mühsam seine Beine hinter sich her gezogen, so waren sie plötzlich zu schwer. Jérôme stürzte der Länge nach auf den Bauch und spürte die weiche Erde eines Ackers unter sich. Mit letzter Kraft drehte er den Kopf, spuckte Erde aus und jappste pfeifend nach Luft, obwohl sein eigenes Körpergewicht die Lunge flach drückte. Er wusste, dass er sich umdrehen musste, um Luft zu bekommen, doch er schaffte es nicht mehr.
Eine große Hand packte ihn schmerzhaft an der Schulter. Sein Körper wurde herumgeworfen, sodass er auf dem Rücken lag. Kraftlos, alle Viere von sich gestreckt und mit dem demütigenden Bewusstsein nackt und beschmutzt zu sein, blickte er zu dem Fremden auf, der wie ein Turm vor ihm aufragte und dessen Umrisse sich nur schwach gegen den Nachthimmel abzeichneten.
"Du wirst niemals wieder deine Kinder und deine Frau schlagen. Du wirst nie wieder ein Mädchen vergewaltigen und töten." Jérôme hörte diese Stimme von allen Seiten. Er nickte, schüttelte den Kopf, nickte und spürte seinen Speichel die Wange zum Ohr hinab rinnen. Er war bereit, allem zuzustimmen. Jetzt glaubte er sogar, ein Lächeln zu sehen, doch dabei blitzten die furchtbaren Zähne erneut auf.
"Agnes sagte mir den Namen ihres Mörders." Jérôme blinzelte. Sie war doch gestorben! Es konnte nicht sein! Vor ihm stand tatsächlich der Teufel! Jérôme wollte beten, doch ihm fielen keine Worte ein. Er hörte sich selbst lallend und unverständlich.
"Du wirst heute Nacht sterben, Jérôme." Die Stimme war ruhig. Sie verkündete eine Tatsache. Und Jérôme akzeptierte sie.

1 Kommentar:

  1. Armand blüht in sener brutalität richtig auf. Einmal mehr wird klar, das man ihn nicht zum Feind haben sollte. Was er anpackt tut er gewissenhaft.

    Und so volzieht er auch die Rache an Jerome. Er hat ihn nackt aus der Stadt gejagt und das mit einer fast spielerischen Leichtigkeit.

    Nun frage ich mich noch, wie Jerome sterben wird.

    Und was wird von ihm zurückbleiben? Was wird man vermuten, wenn man seine Leiche findet? Der feiste Kerl ist nackt aus der Stadt gerannt? Wieso? :D

    Aber ich habe so eine leise Vermutung, dass es nicht viele geben wird, die ihm allzu lang hinterher trauern.


    LG
    Joe

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