Sonntag, 20. Mai 2012

Noctambule III: Das schöne Biest

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Lechaivre hatte sich seinen Schreibtisch in sein Zimmer stellen lassen, um dort ein wenig arbeiten und zumindest die Korrespondenz erledigen zu können. Das Reden fiel ihm nicht mehr schwer, denn die Schwellung der Wangen war zurückgegangen.
Er litt noch immer unter heftigen Kopfschmerzen, doch das nur noch phasenweise und meistens dann, wenn er zu lange aufrecht gestanden oder gesessen hatte. So ruhte er immer wieder zwischendurch auf seinem Diwan und genoss es sichtlich, vom Arzt noch immer als krank und nicht belastbar eingestuft zu werden. Er spielte sein schauspielerisches Talent voll aus, nachdem er begriffen hatte, dass heftige Kopfschmerzen glaubwürdig waren und er sie nur noch ein wenig stärker simulieren musste.


Für heute hatte er sich einige Kerzen aufstellen und gerade noch eine Karaffe mit feinem Wein bringen lassen, um den Abend gebührlich ausklingen zu lassen. Immerhin hatte er nun zwei Stunden am Schreibtisch gesessen und da er das Laudanum, das ihm verschrieben worden war, nicht mit Wein zusammen vertrug, hatte er es weggelassen. Er nahm sowieso viel weniger, als er laut Arzt sollte. Doch dank seiner Überzeugungskünste glaubte sein Medicus ja noch immer, dass die Schmerzen kaum erträglich waren.

Dass diese Verbrecherin nun einfach in sein Haus und sein Zimmer marschiert war, verwirrte ihn kolossal. Er war davon überzeugt gewesen, dass sie mit ihrem Kumpan längst über alle Berge geflohen sei. Allerdings hätte auch niemand vermutet, dass sie nun ein Kind unter dem Herzen trug und sich die Haare so unweiblich verstümmelt hatte. Dennoch ging von ihr trotz dieser entsetzlichen Frisur eine unbeschreibliche Anziehungskraft aus und ihr Liebreiz beflügelte seine Fantasie, obwohl ihre Schwangerschaft eigentlich das Gegenteil bei ihm erzeugen sollte.
"In Eurem Zustand benötigt Ihr viel frische Luft. Ihr gestattet doch sicher, dass ich das Fenster öffne?" Sie wartete seine Zustimmung gar nicht erst ab, sondern ging zu dem hohen Fenster und öffnete beide Flügel weit. Sofort wehten die Vorhänge zu beiden Seiten auf, als eine Windböe in das Zimmer blies. Auch die Kerzen flackerten kurz auf und die, die dem Fenster am nächsten standen, erloschen.
Lechaivre kümmerte sich ebenso wenig darum wie seine Besucherin, die sich wieder zu ihm umwandte und tadelnd den Kopf schüttelte.
"Aber Monsieur! Ihr solltet liegen! Sicher sind Eure schrecklichen Verletzungen noch nicht annähernd genug verheilt, um zu lange zu sitzen! Bitte, tut Euch keinen Zwang an!" flötete sie. Ihre kleine Hand berührte seine Schulter und drückte ihn mit verwirrender Kraft zurück. Er versuchte dagegen zu halten und widersprach.
"Nein, ich will…" Es kam zu keinem Gerangel oder Kampf. Trotz seines Versuches, ihre Hand wegzudrücken und aufrecht zu bleiben, unterlag er ihrer verblüffenden Kraft und wurde mit solcher Wucht zurück gedrückt, dass er unsanft auf den Rücken rutschte und aufstöhnte, weil sein Kopf gegen die Lehne des Diwans stieß.
"Ooooh!" Ihr mitleidsvoller Ausruf triefte vor Hohn. Gleichzeitig näherte sich ihr Gesicht dem seinen bis auf wenige Zentimeter und er konnte ihren Atem an seiner Haut spüren.
"Ihr habt noch solche Schmerzen, nicht wahr?" Lechaivres Blick flog zu der kleinen Glocke, die auf dem Tischchen neben dem Diwan stand. Sollte er nun Hilfe holen und sich dem Spott des Personals aussetzen, weil er einer Frau nicht gewachsen zu sein schien?

Der Gedanke verlieh ihm neue Kräfte. Er stemmte seine Hände gegen das weiche Polster unter sich und wollte hoch schnellen, doch ihre Hand an seiner Schulter presste ihn unerbittlich zurück und hielt ihn in liegender Position. Für einen Moment hätte er schwören können, dass ihre wundervollen Augen aufgeglüht waren. Konnte Laudanum so lange Nachwirkungen haben? Er musste fantasieren! Welche Frau hatte solche Kräfte?
Sein Puls schoss in die Höhe und er begann unter dem Kopfverband zu schwitzen.

Anyas Augen wanderten amüsiert glitzernd über sein Gesicht und die Finger der freien Hand strichen so sanft über die dunkle Verfärbung an seinem linken Auge, dass er nur den seidigen Stoff ihrer Handschuhe spürte.
"Lasst mich los! Was wollt Ihr überhaupt hier?" stammelte er nun unruhig. Ihre Kräfte, ihr Hohn und ihre gesamte Erscheinung verwirrten ihn kolossal.
"Mit Euch sprechen, mein Lieber! Ich wollte mir den Mann ansehen, der ein unschuldiges Mädchen vergewaltigen will. Noch dazu eines, das mit mir befreundet ist." Lechaivre traute seinen Ohren nicht. Ihre süße Stimme schnurrte wie eine Katze und gab gleichzeitig solche Ungeheuerlichkeiten von sich.
"Ich habe keineswegs…" Nun war er ganz sicher, dass ihre Augen geglüht hatten wie zwei Kohlebriketts! Erschrocken verstummte er und starrte sie an, doch schon waren ihre Augen nur einfach schön, groß und dunkelblau. Die langen Wimpern flatterten auf eine betörende Weise, wie er es bei noch keiner Frau erlebt hatte. Ihr kleines Gesicht war so unendlich zart, die Haut so blass und wirkte beinahe wie Porzellan.
Diese Frau war zweifellos die Schönste, die er jemals gesehen hatte, doch konnte er sich einfach nicht erinnern, sie jemals so gesehen zu haben. In seiner Erinnerung war sie ein scheues Reh gewesen, eine unsichere, wenn auch sehr hübsche, junge Frau.
Nun wirkte sie wie eine gefährliche Raubkatze voller Selbstbewusstsein und Schönheit, kraftvoller Anmut und sie strahlte eine Mischung aus tödlicher Gefahr und betörender Erotik aus.
Besonders, da sie ihr Gesicht so unendlich nah an seines brachte und er ihre Nasenspitze kurz spüren konnte, als sie das Gesicht zu seinem Ohr und Halsansatz senkte. Er verstand nicht, was das alles bedeuten sollte und schon gar nicht, was sie von ihm wollte.
"Du hast Angst, nicht wahr?" raunte sie dicht an seinem Ohr. Für eine Sekunde hätte er schwören können, sie schnuppernd die Luft einziehen zu hören. Aber das konnte nicht sein. Doch bevor er darüber nachdenken konnte, hörte er ihre samtige Stimme schon wieder, diesmal wie ein Echo in seinem Kopf, das seinen Puls noch weiter in die Höhe trieb.
"Du hast richtige Angst. Die solltest du auch haben, Paul. Du solltest wissen, wie man sich fühlt, wenn man sich nicht wehren kann."

1 Kommentar:

  1. HERRLICH!

    Anya als Racheengel, welcher, über Miriams Schicksal erbost, über Lechaivre kommt, wie die Löwin über ihre Beute.

    Und so nah ist dieses Gleichnis an der Wirklichkeit, dass es Lechaivre das Blut in den Adern gefrieren lassen würde, sollte er es hören.

    Doch es gefriert längst, ohne dass er weiß, was ihn erwartet. Er ahnt es und das ist noch besser für Anya. Sie kann es genießen. Und sollte etwas ungeplant verlaufen, wartet vor dem Fenster Armand, der nun lautlos hereinkommen kann.

    Kein Glas wird klirren, kein Möbel krachen. Anya wird das Haus verlassen, wie sie gekommen ist und das Personal wird einen Lechaivre finden, der seinen Verletzungen urplötzlich erlegen ist.

    Oder etwa doch nicht? ;)

    Liebe Grüße
    Joe

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