Donnerstag, 4. August 2011

Noctambule II: Die Ruine

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Da es noch heller Tag war und zu allem Überfluss die Sonne schien, hatte sich Maurice so gründlich es ging rasiert und seine Kleidung auf Vordermann gebracht, um Miriam in dem klapprigen Fuhrwerk nach Marseille zu bringen, das auf dem Bauernhof gestanden hatte.
Da er noch nie ein Maultier vor einen Wagen gespannt hatte, war die Aktion nicht ohne Schmutz und schlechter Laune auf beiden Seiten vonstatten gegangen, aber schließlich hatte der Butler auch dies geschafft.

Nun thronte er mit der Miene beleidigter Selbstverachtung auf dem Kutschbock und steuerte das träge Maultier durch die Straßen, neben sich Miriam, die ihren Kopf und ihr Gesicht mit einem schwarzen Schal verhüllt hatte. Sie wollte nicht sofort einem Bekannten auffallen, dem sie aus Versehen über den Weg laufen könnte.
Der holprige Weg und die fehlende Federung des Wagens schüttelte Miriam ordentlich durch und mehr als einmal musste sie haltsuchend zur Seite greifen. Doch als das klappernde Gefährt um die letzte Kurve bog, erstarrte Miriams Körper und ihr Gesicht wurde fahl.
Das Haus war nur noch eine Ruine. Zwar standen die Außenmauern noch, doch das Dach war teilweise eingestürzt und der verbliebene Teil verkohlt und irreparabel zerstört. Die meisten Fenster hatten ihre Scheiben verloren. Außenputz war stellenweise abgebröckelt und größtenteils völlig verkohlt. Man konnte jetzt noch nachvollziehen, an welchen Stellen die Flammen an den Außenwänden hoch gezüngelt waren.
Es schien, als wäre die Hälfte des Hauses über dem Salon, in dem der Brand ausgebrochen war, überhaupt nicht mehr zu retten gewesen. Die Decke des Salons war eingestürzt und hatte die Innenwände der Räume darunter und im ersten Stock teilweise mitgerissen. Ihr Zimmer auf der anderen Seite des Hauses im Obergeschoss hingegen schien fast unversehrt zu sein, dafür aber im Moment unerreichbar weil das Treppenhaus mitsamt Treppe völlig verbrannt war. Wahrscheinlich hatten Qualm und Ruß aber auch diesen Teil unbewohnbar gemacht.

Irgendjemand hatte offenbar einen Trupp Arbeiter mit dem Aufräumen beauftragt, denn mehrere Männer kletterten durch die Trümmer und versuchten augenscheinlich noch Dinge zu retten, die beim Abriss des Hauses spätestens zerstört werden würden. Ein Lastkarren war bereits mit einigen Möbelstücken beladen, die zwar voller Ruß waren, aber sicher wieder aufgearbeitet werden konnten.
Miriam erkannte auch ihren Butler und die Köchin. Beide beaufsichtigten mehr oder weniger, was die Arbeiter taten und begutachteten die Dinge, die herausgeschafft werden sollten. Soeben griff die Köchin mit empörter Miene nach einem silbernen Kerzenhalter, der zwar unter der Hitze des Feuers gelitten zu haben schien, aber da er der Lieblingskerzenhalter von Annabelle de Moureaux gewesen war, verteidigte die Köchin ihn wie eine Löwin.
Maurice blickte besorgt zu der reglosen Miriam, die fassungslos auf das Geschehen starrte. Für Fremde oder diejenigen, die nicht auf den Maultierkarren achteten, wären Miriam und Maurice als Vater und Tochter aus ärmlichen Verhältnissen durchgegangen. Allerdings widersprach der ehrerbietige Ton von Maurice diesem Bild nun.
"Soll ich umkehren, Mademoiselle?" fragte er behutsam. Seine Frage riss Miriam aus ihrer Starre. Blinzelnd wandte sie den Kopf zu ihm und schien seine Frage genau überdenken zu müssen. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.
"Nein. Nein, ich möchte bitte aussteigen." flüsterte sie mühsam gefasst. Maurice reagierte sofort, kletterte von dem Kutschbock herunter und umfasste Miriams Taille, um sie herunter zu heben. Miriam dankte ihm mit einem Nicken und zog fröstelnd den Schal enger. Etwas bang sah sie zu ihm auf.
"Würdest du hier bitte warten?" bat sie zaghaft. Maurice gestattete sich ein Lächeln und deutete eine kleine Verbeugung an.
"Mit dem größten Vergnügen, Mademoiselle. Keine Sorge. Ihr seid sicher." Miriam lächelte kurz. Sie hatte gar keine Sorge, bedroht zu werden. Schließlich war heller Tag und sie musste keinen Angriff von George befürchten. Sicher hingegen fühlte sie sich dennoch nicht. Sie stand vor den Trümmern ihrer unbeschwerten Kindheit, die innerhalb von einem Tag so ein jähes Ende gefunden hatte.
Zuerst wurde sie von niemandem beachtet, als sie sich zögernd der Ruine näherte. Doch dann sah die Köchin auf, stutzte und erkannte sie mit einem heiseren Aufschrei. Sie ließ den Stapel mit gerettetem Silber klirrend fallen und stürzte durch das Chaos hindurch auf Miriam zu, um sie in die Arme zu reißen.
"Mademoiselle! Meine kleine Mademoiselle! Ihr lebt! Ihr seid nicht mit verbrannt! Dem Herr im Himmel sei Dank! Oh Gottogottogott, die ganze Zeit befürchteten wir, Euch unter den Trümmern zu finden!" Sie drückte und herzte die stumme Miriam, die den Freudentaumel über sich ergehen ließ, ohne ihn erwidern zu können. Aber die schweratmige Köchin war nicht zu bremsen. Auch der Butler kam völlig aufgelöst an, behielt jedoch soweit die Fassung, dass er sich lediglich verbeugte. Maurice entspannte sich wieder. Er hatte bereits zum Sturm angesetzt, denn auch der Butler eines abgebrannten Hauses war ein Butler und wer die Contenance verlor, war eben ein Butler mit einer blutigen Nase.
"Wo seid Ihr denn nur gewesen, Kindchen? Wie konnte das alles nur passieren? Es ist so tragisch! Das schöne Haus! Wo wart Ihr denn nur?" Die Fragen stürmten auf Miriam ein, die nur langsam aus ihrer Starre erwachte und mit einem müden Lächeln die widerstrebende Köchin von sich schob.
"Das ist eine lange Geschichte, Madelaine. Aber wichtig ist jetzt nur, dass ich lebe und dass wir hier irgendwie Ordnung schaffen." Meinte sie ablenkend und schaute mit einem tiefen Seufzer auf das Trümmerfeld. Aber die Köchin war in ihrem Element.
"Achwas, dafür sind die Arbeiter da. Irgendwo war doch noch ein Stuhl? Ihr müsst Euch setzen, Ihr seid ja ganz blass. Der Küchentrakt ist halbwegs benutzbar, wartet bitte, ich hole Euch etwas Wasser." Wieder musste Miriam die übereifrige Köchin abwehren. Sie schaffte das mit einer energischen Handbewegung und wandte sich dem wesentlich ruhigeren Butler zu.
"Wer hat das hier angeordnet? An wen muss ich mich wenden? Was geschieht mit meinen Sachen und wohin werden sie gebracht?"
"Angeordnet wurde das von Madame Dubrés. Wir sortieren das zusammen, was noch brauchbar ist. Madame hat eine Lagerhalle angemietet, dort werden die Dinge gelagert." begann der Butler mit dem Bericht. Er begleitete Miriam durch die Trümmer ihres Hauses und begann ihr zu berichten, was aus seiner Sicht vorgefallen war.

Maurice lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Karren und starrte auf das Haus. Er würde hier warten, bis Miriam wieder zu ihm kommen würde und dann entscheiden, wie er weiter verfahren sollte. Wie lange das dauern konnte, überließ er völlig Miriam. Seine Arbeiten zu Hause konnten warten. Man musste auch einmal Prioritäten sammeln.
Als Miriam zurückkam, war ihr schwarzes Kleid rußverschmiert und staubig. Sie war noch immer blass, was ihre braunen Augen noch größer wirken ließ. Als sie vor ihm stand, bröckelte ihre mühsam aufrecht erhaltene Fassade der gefassten Herrin über Personal und abgebranntem Haus und sie schwankte leicht. Maurice griff stützend nach ihrem Ellbogen.
"Ich möchte zu Madame Dubrés. Ist das möglich, Maurice?" fragte sie zaghaft. Väterlich lächelnd nickte der Butler und half ihr fürsorglich auf den Wagen hinauf.
"Selbstverständlich. Alles ist möglich, Mademoiselle. Ich bringe Euch hin." verkündete er und schnalzte energisch dem dösenden Maultier zu, das sich eher widerwillig an die Arbeit machte.

1 Kommentar:

  1. Maurice als Kutscher. Das ist ja schon mal ein Bild für die Götter. Wie der steife Butler auf dem Bock eines Karrens sitzt und vorn ein Maultier. Ich kann es mir lebhaft bildlich vorstellen.

    Und hinten drin äh natürlich drauf - es ist ein Karren, keine Kutsche - die arme Miriam, die nicht weiss, wie ihr geschieht. Immer noch nicht!

    Was wird nun werden. Hat sie nun Geld oder hat sie keines? Ich bin gespannt, wie das nun ausgeht.

    Aber was hat die alte Dubres da zu schaffen? Warum kann sie die Arbeiter anheuern? Ich hätte gedacht, dass dies, bei Verschwinden aller zuständigen, in den Bereich der Obrigkeit oder vielleicht des Butlers fällt. Aber Amanda ist ja ohnehin ein Fall für sich.

    Jetzt fährt Miriam als zu Madame und wird dort hoffentlich von Anya hören. Dann können die Herren ihre alberne Idee mit Florenz auch gleich mal wieder an den Nagel hängen und sich auf die Suche konzentrieren.

    Liebe Grüße
    Joe

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