Dienstag, 6. November 2012

Noctambule III: Langeweile

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Obwohl das Landgut von Miriam nur noch eine Tagesreise entfernt und die Grenze ihrer Ländereien nicht einmal eine Stunde vor der Mühle endeten, hatten die Freunde sich seit über einer Woche nicht mehr auf die Reise begeben. Maurice hatte den Kutscher zurück an die Stadtgrenze von Marseille gebracht, nachdem Armand die Kutsche selbst einfach gekauft hatte. Nun übte Maurice beinahe jeden Tag den Umgang mit der Kutsche und wenn ihn niemand beobachtete, dann konnte er sogar den Spaß am Fahren zulassen. Nach außen hin jedoch kommentierte er diese Tätigkeit als unter seiner Butlerwürde, die er nur zähneknirschend unterdrückte.


Anya war unendlich erleichtert gewesen, Miriam gesund und schöner denn je zu sehen. Gerne hätte sie sich bereit erklärt, Miriam die Jagd beizubringen, doch natürlich klebten Sergej und Miriam Tag und Nacht aneinander wie Pech und Schwefel. Miriam amüsierte sich königlich darüber, dass ihr nun die schönen Kleider, die sie früher so gerne getragen hatten, gar nicht mehr so wichtig waren. Sie zog praktische Hosen vor und übte täglich das Klettern an Bäumen oder den alten Mauern der Mühle.
Nach wie vor blieb Anya die einzige Vampirin, die nicht die Fähigkeit hatte, eine mentale Verbindung zu den anderen herzustellen außer zu ihrem kleinen Sohn Raoul. Miriam hingegen war in den ersten Tagen offen wie ein Scheunentor und lernte nur mit einigen Schwierigkeiten, ihre Fähigkeiten perfekt zu kontrollieren. Sie hatte schnell zugegeben, dass sie es ungeheuer genoss, die Gegenwart der wichtigsten Wesen in ihrem Leben so deutlich zu spüren, weshalb sie sich nur ungern verschloss.
In einem vertrauten Gespräch zwischen den Freundinnen gestand Miriam leicht beschämt, dass sie überhaupt keine Probleme gehabt hatte, bei ihrer ersten Jagd einen Menschen zu töten. Sie hatte durch ihre Verwandlung zwar ihre alte Gesundheit zurückerlangt, wenn nicht sogar noch eine viel stabilere. Dennoch war sie ausgezehrt und war kaum zu halten gewesen, nachdem sie die erste Spur von gesundem, menschlichem Blut aufgenommen hatte.
Anya erkannte schmunzelnd, dass Miriam sich nicht nur körperlich verändert hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht hatte Miriam an Reife gewonnen und genoss ihre neuen Fähigkeiten. Sie lebte regelrecht auf, lachte viel und war voller Tatendrang. Sergej war mehr denn je in sie verliebt und gab allen ihren Wünschen sofort nach. Nacht für Nacht begleitete er sie und lehrte sie, mit ihren neuen Kräften umzugehen.

Auch Maurice hatte keine Zeit sich auszuruhen, denn Sergej hatte täglich neue Aufträge für ihn. Die Wichtigsten hielten ihn für zwei Tage in Marseille auf, wo er drei Abschriften der Heiratsurkunde anfertigen und beglaubigen ließ. Eine der Abschriften hinterlegte er – ausgestattet mit je einer Vollmacht von Sergej und Armand – bei der Bank von Marseille, um Miriam vollen Zugriff auf die Konten zu gewährleisten, sollte Sergej einmal etwas geschehen. Nachdem das erledigt war, beauftragte er die Bank, die Gelder von Armand und Sergej nach Aix-en-Provence zu verlegen, was eine kürzere Reise für die Kontoinhaber bedeutete. Der zweite Auftrag an die Bank lautete, das Original der Heiratsurkunde im Tresor der Bank in Aix-en-Provence aufzubewahren. Mit der zweiten Abschrift schließlich meldete er sich beim Rathaus in Marseille und ließ die Ehe beim Familiengericht eintragen, damit Miriam nun auch offiziell vom Staat als verheiratet anerkannt wurde. Nachdem er so dafür gesorgt hatte, dass Miriam rundherum abgesichert war, konnte er mit gutem Gewissen zurückkehren und Sergej vermelden, dass seine Aufträge mit gewohnter Genauigkeit ausgeführt worden waren.
Jocelyn genoss die Zeit auf ihre Weise. Da Sergej, Miriam, Anya und Armand den größten Teil des Tages verschliefen, widmete sie sich der Aufgabe, die Mühle ein wenig wohnlicher zu machen, Kleidung zu flicken oder Fische zu fangen, damit sie und Maurice auch etwas zu essen hatten. Miriam hatte sie sehr verlegen gebeten, ihr erst einmal aus dem Weg zu gehen, denn sie konnte noch nicht garantieren, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, wenn sie zu nah bei dem Mädchen stand und das gesunde Blut wahrnahm, das durch Jocelyns Adern floss. Jocelyn kam dieser Bitte mehr als gerne nach, denn für sie war es beängstigend, dem mörderisch hungrigen Blick Miriams zu begegnen und so floh sie jedes Mal aus Miriams Nähe.
Der kleine Raoul hingegen wurde zur Lieblingsbeschäftigung Jocelyns. Da es gerade keinen wirklich geregelten Tagesablauf gab, der Jocelyn früh morgens schon aus dem Bett zwang, blieb sie gerne nachts viel länger auf und beschäftigte sich dann rührend mit dem Baby. Miriam hatte verblüfft bemerkt, dass der kleine Junge sich massiv verändert hatte und viel größer war, als vor ihrer Krankheit, in der sie Raoul gar nicht mehr richtig wahrgenommen hatte. Nachdem Miriam davon gesprochen hatte, bemerkte auch Jocelyn, dass Raoul für die wenigen Monate seines Lebens unglaublich weit gediehen war. Weiter als sie es von ihren Geschwistern in Erinnerung hatte. Auch Sergejs amüsierte Erklärungen, dass der vampirische Nachwuchs nicht mit menschlichen Kindern zu vergleichen war, änderte nichts an Jocelyns Verblüffung.
Als Jocelyn an diesem sonnigen Tag mit einem Korb nasser Wäsche vom Fluss zurückkam, hörte sie Raoul schon vor dem Haus. Die helle Stimme klang nörgelnd und gelangweilt und wechselte zwischen Brüllen und Weinen. Jocelyn stellte den Korb ab, wischte sich grinsend die Hände sauber und betrat das Wohnzimmer, wo Anya mit müdem, genervtem Gesicht ihren Sohn herumtrug und zu beschwichtigen versuchte.
"Na, den jungen Prinzen hört man aber schon von weitem." kicherte Jocelyn amüsiert, erntete jedoch von Anya angespannte Gereiztheit.
"Ich habe keine Ahnung, was er will. Hunger hat er nicht, sauber ist er auch, aber er lässt mich einfach nicht schlafen." seufzte sie und setzte den Jungen in die ausgestreckten Arme des Mädchens.
"Das hört man doch! Er langweilt sich!" lachte Jocelyn und verzog sofort das Gesicht, weil die kleine Faust des Jungen sofort nach ihren Haaren griff und empfindlich daran zog. Anya schaute erstaunt auf und musterte ihren Sohn mit neuer Erkenntnis.
"Er langweilt sich? Er soll schlafen!" verlangte sie müde, musste aber schmunzeln darüber, was sie von ihrem kleinen Sohn verlangte. Jocelyn löste behutsam die kleinen Finger aus ihren Haaren und betrachtete das blasse, aber schöne Gesicht des Kindes.
"Kinder schlafen aber leider nicht immer dann, wenn ihre Eltern das am liebsten hätten. Das solltest du selbst am besten wissen." belehrte sie ihre Freundin, die nun breit grinste, aber dabei gähnte und ihr scharfes Gebiss mit herzhafter Ungeniertheit entblößte. Jocelyn wandte schnell den Blick ab, denn diese Zähne lösten immer noch einen leichten Grusel aus.
"Geh einfach schlafen. Ich kümmere mich um den kleinen Herrn. Und wenn er müde ist, kann er auch in meinem Zimmer schlafen." bot sie der müden Mutter an. Anya schaute überrascht auf und ein ungläubiger Blick traf Jocelyn, die grinsen musste. Sie entdeckte die Hoffnung auf einen ruhigen Schlaf in den Augen ihrer Freundin, was sie nur zu gut verstehen konnte.
"Und wenn er Hunger bekommt?" fragte Anya unsicher. Jocelyn winkte ab.
"Dann wecke ich dich, in Ordnung?" Anya rang mit sich selbst. Doch auch wenn ihr Muttergefühl gerade ein schlechtes Gewissen auslöste, dass sie ihr Kind einfach einem anderen überließ, so war ihre Müdigkeit doch enorm. Schließlich lächelte sie träge und beugte sich zu ihrem Kind, um ihm einen Kuss auf die zarte Wange zu drücken.
"Danke Jocelyn. Du bist ein wahrer Schatz!" meinte sie.

1 Kommentar:

  1. Nun also normalisiert sich alles weiter.

    Auch wenn ich nicht ganz verstehe, wieso man sich noch nicht auf das Landgut begeben hat, wo man bequem leben könnte, und stattdessen in der baufälligen Mühle bleibt.

    Doch wie auch immer. Miriam hat ihre Verwandlung überstanden und mag es nun die Hochzeit gewesen sein oder ihr neues Leben: Sie ist vom Mädchen zur Frau geworden.


    Schön, dass sie schnell gelernt hat, sich zu kontrollieren. Das sollte die Sanghieri fernhalten. Die scheinen aber nach wie vor weit außer Reichweite zu sein.

    Doch irgendwie macht mir das mit Raoul Sorgen.
    Alessio hatte die Vermutung, das Kin würde die mentalen Fähigkeiten schnell entdecken und relativ schutzlos sein. Nicht, dass er etwas fühlt, was die anderen noch nicht fühlen?

    LG
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.