Mittwoch, 17. Oktober 2012

Noctambule III: Laudanum

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Schlimme Verletzungen hatte Lucien häufig zu versorgen. Meistens waren es Handwerker, die mit offenen Knochenbrüchen, zertrümmerten Gliedmaßen, tiefen Schnittwunden oder Nasenbrüchen nach einer Prügelei zu ihm kamen. Auch Hausfrauen oder Kinder mit Verbrühungen oder Verletzungen durch Schläge der Männer oder Väter waren keine Seltenheit. Doch dies hier hatte er noch nie gesehen.


Das Feuer musste ganz offensichtlich von unten gekommen sein und sie musste Schuhe getragen haben, denn die Füße waren kaum verletzt. Er konnte sich nicht erklären, wie es hierzu gekommen war, oder besser gesagt, er wollte es nicht, denn die einzige noch offene Option war undenkbar. Große Stellen beider Unterschenkel waren bis tief ins Fleisch verbrannt. Weiter oben ab den Kniekehlen ungefähr warf die Haut dicke Blasen voller Flüssigkeit auf. Doch die offenen Stellen mit rohem Fleisch verlangten seine ganze Geschicklichkeit.
Vorsichtig versuchte er, abgestorbenes Gewebe zu entfernen, das sich bereits schwarz verfärbte und Schuld an der Entzündung war, die immer weiter voran schritt. Immer wieder tupfte er mit der Pinzette Blut und Eiter ab, säuberte die geschwärzten Stellen von Gewebe, Ruß und Schmutz und versorgte sie mit einer Tinktur aus verschiedenen Kräutern, um die Entzündung einzudämmen.
Wieder und wieder stöhnte die junge Frau doch Lucien versuchte, ihre Laute auszublenden.
"Das ist aber schon länger her, nicht wahr?" fragte er das Mädchen, die hastig frische Stoffstückchen oder neues Werkzeug reichte. Sie hatte sich ihm als Jocelyn vorgestellt und schien recht aufgeweckt zu sein.
"Es ist gestern passiert." antwortete sie wahrheitsgemäß und strich mitfühlend über die Stirn der Patientin. Lucien nickte, sah jedoch nicht von seiner Arbeit auf. Ihm brannten die Fragen auf der Seele, doch er rief sich selbst immer wieder zur Ordnung, da ihn das Privatleben seiner Patienten nichts anging. Er hatte sich das Recht abgesprochen, zu fragen. Jetzt aber bohrte die Neugier wie ein Stachel in ihm. Schließlich entschied er, dass er als Arzt durchaus das Recht zu Fragen hatte und fühlte sich schlagartig besser.
"Wie ist das denn überhaupt passiert?" fragte er mit beiläufigem Ton. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die streichelnde Hand stockte und das tiefe Durchatmen des Mädchens war nicht zu überhören.
"Ihr Kleid hat angefangen zu brennen." antwortete sie mit brüchiger Stimme. Lucien hob kurz den Kopf und warf ihr einen Seitenblick zu. Ihr Gesicht zeigte angespannten Trotz, was Lucien bewies, das sie log oder zumindest nur einen Teil der Wahrheit sagte. Schweigend senkte er den Kopf wieder und wandte sich endlich dem zweiten Bein zu. Die Patientin wurde immer unruhiger und ihr Stöhnen wurde lauter, denn diese Seite war deutlich schlimmer verbrannt. Schließlich legte Lucien sein Werkzeug beiseite und begann in der Tasche zu wühlen. Er zog eine winzige Flasche aus einer Ecke seiner Tasche und einen Löffel.
"Was ist das?" fragte Jocelyn wie aus der Pistole geschossen. Lucien ließ sich mit der Antwort Zeit und zählte zehn Tropfen ab, die er der jungen Frau schließlich behutsam einflößte.
"Das sind Tropfen gegen die Schmerzen. Man nennt es Laudanum. Es ist sehr teuer und schwer herzustellen. Ich verwende es nur bei großen Schmerzen." erklärte er dabei ruhig und fühlte mit dem Handrücken die heiße Stirn der jungen Frau, die bisher noch nicht einmal die Augen geöffnet hatte.
"Wie heißt sie?" fragte er nun leise. Jocelyn flüsterte den Namen beinahe.
"Miriam." Lucien nickte.
"Miriam, hörst du mich? Ich bin Lucien. Ich bin Arzt und will dir helfen." gespannt wartete er auf eine Reaktion und mit einiger Verzögerung kam sie auch endlich. Miriam nickte und öffnete die spröden Lippen. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Aber Lucien hatte auch nicht damit gerechnet. Er war bereits zufrieden, dass sie reagiert hatte und widmete sich nun den Handgelenken, nicht ohne zu bemerken, dass Jocelyn nun den Atem anhielt.

Mit langjähriger Routine entfernte er den Verband und zuckte zusammen, als er die Wunde betrachtete. Auch hier tobte eine Entzündung. Die Wundränder waren dick angeschwollen und hatten sich verfärbt. Das getrocknete Blut schreckte Lucien weniger, die Vereiterung hingegen machte ihm mächtige Sorgen. Er drehte den Kopf leicht und warf dem Mädchen einen sarkastischen Blick zu.
"Das kommt sicher auch von der Verbrennung, ja?" fragte er leise. Sie schluckte und wich seinem Blick aus, indem sie zur Seite sah. Lucien presste die Lippen aufeinander und konnte sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen. Er kannte Verletzungen durch Werkzeuge zur Genüge und so manch ein Dachdecker hatte sich bei einem Sprung vom Gerüst schon einen langen Nagel durch die Schuhsohle hindurch in den Fuß getreten.
Diese Wunden hier waren eindeutig absichtlich durch etwas Langes mit glatter Oberfläche entstanden. Lucien stoppte seine Gedanken und schnaufte wütend. Mit etwas Druck würde er das Mädchen hier zur Rede stellen können und seine Auskünfte erhalten, die den schrecklichen Verdacht bestätigen würden. Doch was hätte er dadurch gewonnen? Wie würde er dieser jungen Frau dadurch helfen können? Die einzige Hilfe, zu der er fähig war, bestand in der Versorgung und Pflege ihrer Wunden und außerdem warteten vor der Tür zwei Männer, denen er nicht eine Sekunde über den Weg traute. Offenbar versuchten sie, die arme Frau hier zu schützen. Was würden sie ihm antun, wenn er deutlich machte, dass er die Wahrheit kannte?

Lucien hatte noch nicht zu Ende gedacht, als sich die Tür leise öffnete und der kleinere von den beiden Männern den Kopf herein steckte. Lucien hob kurz den Kopf und nickte, dann begann er, die letzte Wunde mit frischen Tüchern zu verbinden. Schließlich richtete er sich auf und wusch sich die Hände.
"Ich habe ihre Verletzungen gesäubert und behandelt. Aber ich kann nicht ausschließen, dass der Wundbrand sich ausbreitet." meinte er dabei leise. Ihm entging der liebevolle Blick des Mannes zum Bett nicht, doch er senkte den Kopf tiefer und schien sich voll auf das Waschen seiner Hände zu konzentrieren.
"Ich werde morgen noch einmal vorbei kommen und sie erneut versorgen. Sie braucht viel zu trinken und gutes Essen. Frisches Obst und Gemüse, Fleisch wäre gut. Und viel trinken!" wiederholte er eindringlich wobei er den Kopf nun hob und beide eindringlich ansah. Der Mann nickte ohne den Blick von dem Bett abzuwenden. Lucien griff in seine Tasche und stellte die kleine Flasche Laudanum auf das Tischchen vor dem Bett.
"Das lasse ich hier. Nur zehn Tropfen geben, auf keinen Fall mehr. Und nur, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushalten kann!" erklärte er mit ruhiger Autorität. Niemand hielt ihn auf als er sich anschickte, das Haus zu verlassen. Kein Dank und keine Bezahlung, doch Lucien hoffte tatsächlich darauf, morgen spätestens etwas Geld zu erhalten. Und wenn nicht, dann hatte er diesen Monat einfach etwas weniger zu essen.
Lucien schlug den Mantelkragen hoch und zog den Hut tief in die Stirn, als er durch den Regen nach Hause stapfte. Seine Stirn war tief gefurcht. Im schwachen Licht der Kerzen hatte er die Verbrennungen an den Händen des Mannes gesehen und auch die schonende Haltung seiner Schulter. Was er nicht verstand war, dass die Verbrennungen so aussahen, als wären sie schon weitaus älter als die der jungen Frau und fast verheilt. Wie konnte das zusammen passen? Reiner Zufall? Auf seinem Heimweg bemerkte er vor lauter Grübelei nicht, dass ihm ein schwarzes Augenpaar folgte.

1 Kommentar:

  1. Lucien ist ein guter Arzt und ich hoffe, sobald sich Besserung bei Miriam zeigt werden auch Armand und Sergej wieder etwas zur Besinnung kommen und dem guten Mann danken und ihn bezahlen.

    Aber wer folgt ihm da im Dunklen? Schwarze Augen?
    Ich ahne Schlimmes.

    Er tut jedenfalls gut daran nicht allzu sehr nachzuhaken. Das mit den Armen konnte er sich ja offensichtlich selbst denken und was die Herkunft der Beinverbrennungen angeht, haben sie ja nicht gelogen. Es ist eben nur die Frage, wovon ihr Kleid Feuer gefangen hat.

    Wundbrand und vermutlich wird sie über kurz oder lang auch septisch werden. Das ist ein üble Aussicht für Miriam. Aber Sergej scheit wild enschlossen, ihr die Verwandlung vorzuenthalten.

    LG
    Joe

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