Samstag, 13. Oktober 2012

Noctambule III: Alter Freund

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Obwohl der Regen alle Flammen längst gelöscht hatte und der stetige Wind über die Ruinen blies, ging noch immer ein beißender Geruch von den verkohlten Balken des alten Bauernhauses aus. Fünfzehn Männer in bodenlangen Mänteln standen reglos um den Brunnen verteilt und sahen zu, wie ein einziger durch die Ruine streifte und dabei hin und wieder wütend einen Balken oder Stein zur Seite trat.


Alessio war wenig beeindruckt von dem Bild der Verwüstung, das sein Bruder offensichtlich geschaffen hatte. Auch ohne Enrico hätte er mühelos den Weg zum Hof zurück gefunden und plante, von hier aus seine Suche zu starten. Doch nun versuchte er konzentriert, sich den Ablauf vorzustellen, den Enrico ihm wieder und wieder hatte berichten müssen.
Er entdeckte sofort den Baum, an dem Enrico wohl von hinten niedergeschlagen worden war und stieß ein ironisches Zischen aus. Den ganzen Weg hatte er seinen Gefolgsmann höhnisch damit aufgezogen, offenbar von einer kleinen Frau überrumpelt worden zu sein, wenn nicht sogar von dem Menschenweib. Enrico hatte den Spott stumm ertragen, denn das war allemal besser, als die Wahrheit zu berichten.
Alessio starrte grübelnd auf den Verschlag, in dem sich sein Bruder mit seinen Männern vor dem Tageslicht zu schützen versucht hatte. Beinahe konnte er tatsächlich sehen, wie das Geschehen verlaufen war. Der Tod seines älteren Bruders schmerzte Alessio nicht besonders tief. Fabrizio hatte stets als Nachfolger gegolten und war entsprechend aufgetreten. Seit Alessio zurückdenken konnte, hatte er seinem Bruder gehorchen müssen und selten eine wirkliche Chance bekommen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Fabrizio hatte Alessio einfach als den kleinen, dummen Bruder hingestellt und nicht einmal sein Vater hatte ihn dabei gebremst. Wenn er sich beschwert hatte, musste er das Lachen Antonios ertragen. "Wenn du das nicht magst, sag es ihm! Setz dich durch, mein Sohn!" war die ewige Antwort gewesen. Alessio hatte sich aber nicht durchsetzen können. Schließlich hatte er sich stumm in seine Rolle gefügt und war der brave, kleine Bruder geblieben.
Nein, der Tod Fabrizios kam ihm eher gelegen. Denn im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Alessio die Bräuche und Sitten seines Clans hoch geachtet und auf deren Einhaltung größten Wert gelegt. Das Wort seines Vaters war Gesetz und hatte befolgt zu werden. Alessio hatte es als eine seiner Aufgaben angesehen, genau darauf auch zu achten. Immerhin hatte er damit die Anerkennung und so manches Lob seines Vaters ergattern können, was es ihm erleichterte, den Spott seines Bruders zu ertragen.
Jetzt aber war die Ehre der Sanghieri massiv beschmutzt worden. Ein dahergelaufener Franzose hatte es mit einem Haufen erfahrener Vampire aus seinem Clan aufgenommen und war auch noch siegreich daraus hervorgegangen. Er hatte das Oberhaupt der Familie getötet und je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er auch davon, dass Armand seine Schwester umgebracht hatte. Dieser Sartous hatte das Recht zu leben längst verspielt.
Während er grübelte, folgte er der Treppe in den Keller und entdeckte den Eingang zum Erdstall. In der Dunkelheit vermochte er nicht viel zu erkennen, doch er kannte ja die Darstellung von Enrico und konnte sich gut vorstellen, wie die beiden Frauen darin verschwunden waren. Nachdenklich versuchte er sich in die Situation von Armand hineinzuversetzen. Was hätte er an seiner Stelle getan? Die Antwort war für ihn klar: er wäre mit den Frauen in diesem Stollen verschwunden. Stattdessen aber hatte Sartous sich für den Kampf entschieden. Warum? Es konnte nur einen Grund geben, nämlich um Zeit zu schinden, damit die Frauen in Sicherheit gelangen konnten.
Angeblich hatte Armand überzeugend erklären können, dass er den Ausgangspunkt des Stollens nicht kannte. Wenn das stimmte, dann mussten sie einen Treffpunkt vereinbart haben, an dem sie sich irgendwann wieder treffen würden. Aber welcher Ort konnte das sein? Das alte Haus des Franzosen verwarf Alessio schnell wieder als möglichen Treffpunkt. Dort war die Gefahr zu groß, durch heimliche Beobachtung entdeckt zu werden, zumal Fabrizio diesen Gedanken sicher auch gehabt hatte. Sartous musste das wissen und das Haus nicht einmal in Erwägung gezogen haben. Wo aber dann?
Nachdenklich kehrte Alessio wieder an die Oberfläche zurück und starrte in den Sternenhimmel. Wohin konnte ein Vampir seine Frau schicken, um sie unbedingt wiederfinden zu können? Weit weg konnte das nicht sein, denn sie war schließlich hochschwanger. Aber dieser verdammte Franzose hatte den Heimvorteil und schließlich hatte er seinem Bruder auch noch aufgelauert und ihn getötet. Und das am Ausgang dieses Tunnels. Hatte Armand nun gelogen und den Ausgang doch gekannt? Oder war er einfach Fabrizio gefolgt? Wohin waren die Frauen von dort aus geflohen? Zurück in die Stadt? In welche Himmelsrichtung?
Alessio baute sich vor seinen Männern auf und atmete tief durch.
"Ich denke, wir können den Süden und Westen ausschließen. Der Süden wäre zu gefährlich gewesen durch die Stadt, aus der er ja raus wollte. Der Westen ist für mich unwahrscheinlich. Das Land dort ist zu flach und bis auf die Städte zu dünn besiedelt. Wir könnten ihn alleine durch sein Jagdschema aufspüren. Bleiben Norden und Osten übrig. Wir teilen uns auf! Acht Mann fächern sich in nördlicher Richtung auf. Lest oder befragt Menschen, beschreibt ihnen den Großen! Der ist am Eindeutigsten. Die anderen folgen mir in den Osten. Verschließt Euch nicht, ich will, dass Sartous uns spürt und sich gehetzt fühlt. Wer eine Spur findet, ruft die anderen!" Er blickte eindringlich in die Runde der schweigenden Männer. "Eines muss euch klar sein! Wir kehren nicht um, bis wir ihn gefunden haben! Also strengt euch an! Ich dulde weder Fehler noch Versagen!" Alessio winkte Enrico zu sich, der mit gesenktem Kopf neben ihm stehen blieb, bereit für Befehle.
"Du bleibst in meiner Gruppe. Wer weiß, vielleicht fällt dir ja doch noch etwas Wichtiges ein, was du mir erzählen solltest." Sein Blick brannte sich regelrecht in Enricos Augen, als dieser verblüfft aufsah und die Brauen Alessios zogen sich zusammen. "Nicht wahr, Enrico… alter Freund?"

1 Kommentar:

  1. 16 Sanghieri sind also inzwischen eingetroffen.

    Das wird eine ziemlich wilde Hatz. Und wären sie doch endlich in der Nacht aufgebrochen.

    Jetzt kann nur er Vorteil sein, dass sie noch viel näher sind, als die Floreniner es vermuten und ihre Suche viel zu weit abseits beginnen. Sie werden auf niemanden stoßen auf den die Beschreibung zutrifft.

    Aber was machen Armand und Sergej, wenn sie nun spüren, dass die Sanghieri wieder da sind?

    Ach diese ganze Jagdgeschichte ist sehr unrümlich. Und nun ist die Frage, ob Enrico wohl doch noch einknickt?

    Was ist eigentlich mit einem neu erwachenden Vampir? Können das die Sanghieri spüren, wenn Sergej Miriam das Leidensschicksal erspart und sie nicht gerade genauso blind geboren, resp. verwandelt, wird wie Anya?

    Und immer noch: Warum ist das so wichtig? Er setzt jetzt noch einmal einen Haufen Leben und nicht zulezt natürlich Geld aufs Spiel um Armand habhaft zu werden. Das kann doch kaum die 500 Jahre zurückliegende Ermordung seiner Schwester sein, die noch nicht einmal bewiesen ist, und die der Alte, dessen Worten Alessio doch immer so treu gefolgt ist?

    LG
    Joe

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