Mittwoch, 5. September 2012

Noctambule III: Wie eine Tochter

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Stumm lief Miriam neben der fröhlich erzählenden Catherina über den Marktplatz. Seit Tagen grübelte sie inzwischen über ihre Herkunft und versuchte verbissen, sich an irgendetwas zu erinnern. Bei jedem neuen Ereignis hoffte sie inbrünstig, sich an etwas zu erinnern und sog alle Informationen auf wie ein Schwamm. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr Gedächtnis blieb dunkel.


Sie konnte nicht verstehen, was mit ihr geschehen war. Warum wusste sie, was ein Markt war, wenn sie ihn nicht kannte? Warum wusste sie, wie man das Besteck benutzt und sich zu benehmen weiß, wenn sie nicht einmal ihren Namen nennen konnte? Einerseits fühlte sie sich unwissend wie ein kleines Kind, andererseits tat sie unbewusst Dinge, die ihr im Nachhinein erst auffielen und die sie nicht hätte wissen müssen.
Catherine blieb liebevoll und mütterlich. Miriam hatte diese Frau lieb gewonnen, die sie so selbstlos aufgenommen hatte und ohne zu drängen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte zu helfen.
"Und wenn sich deine Erinnerung überhaupt nicht einstellen will, Belle, dann bleibst du bei mir wie eine Tochter. Du wirst sehen, dein Leben kann auch ohne deine Vergangenheit zu kennen schön sein." hatte Catherine sie gestern getröstet, als sie weinend am Küchentisch gesessen hatte. Miriam konnte ihre Dankbarkeit nicht in Worte fassen. Es schien ihr viel zu wenig, einfach nur zu helfen wo sie konnte, um diese Dankbarkeit auszudrücken. Und allmählich kam es ihr sogar undankbar vor, weiter nach ihrer Vergangenheit zu suchen, denn damit würde sie sich unweigerlich von Catherine trennen müssen, um wieder bei ihrer Familie zu leben.
Was aber war, wenn man sie auf dem Markt erkannte und sie zu einer Familie brachte, an die sie sich nicht erinnern konnte? Würde sie sich dort genauso wohl fühlen wie bei Catherine? In Miriam kroch die kalte Angst hoch, dass sie vom Schicksal herumgeschubst wurde ohne selbst eine Entscheidung treffen zu können.
Artig packte sie Äpfel und Nähgarn in ihren Korb, die Catherine gekauft hatte und blieb still. Catherine hingegen war sehr eifrig. Sie kannte die Marktfrauen mit Namen und hielt immer wieder zu einem kleinen Tratsch stehen. Dabei vergaß sie nicht ein einziges Mal, Miriam als ihre Nichte vorzustellen, die zu Besuch bei ihr war. Catherine hatte ihren Plan sorgfältig mit Miriam besprochen.
Hätte sie die Wahrheit über Miriams Unfall und Gedächtnisverlust berichtet, würden sie Gefahr laufen, dass man diese unwahrscheinliche Geschichte nicht glauben würde. Das Misstrauen unter den einfachen Menschen war groß. Man würde stumm die aberwitzigsten Dinge unterstellen, die ihr und Catherines Familie schaden könnten. So blieb Miriam die harmlose Nichte, die freundlich begrüßt wurde und im Allgemeinen uninteressant blieb, denn es gab schließlich wichtigere Dinge wie den Mord am Bäcker zu besprechen.

Miriam lauschte den entsetzlichen Berichten zwar, konnte aber keine Verbindung zu sich herstellen. Es schien ein Zufall zu sein, dass ihr Sturz am Fluss in der gleichen Nacht wie der Mord geschehen war. Immer wieder wurde Catherine bedauert, weil ihr Sohn damit seinen Lehrherrn verloren hatte und überhaupt sicher unter Schock stehen musste, weil er seinen Herrn gefunden hatte. Catherine nahm dieses Mitgefühl dankend an ohne Yanis Zustand genauer zu erklären.
Es war Miriam unangenehm sich in der Gegenwart von Catherines jüngstem Sohn aufzuhalten. Sie verstand nicht, warum er ihr gegenüber so feindselig war, versuchte sie doch alles, um niemandem zur Last zu fallen. Sie wollte Yanis nicht ärgern oder stören, doch irgendwie schien ihre Gegenwart zu genügen, um ihn zu reizen. Als sie dies Catherine gegenüber angesprochen hatte, winkte diese nur ab und erklärte, er sein einfach launisch und wahrscheinlich von ihr verzogen.
Bei jedem Klatsch und Tratsch versäumte Catherine nicht, ein neues Gerücht zu streuen. Sie habe von einer anderen Marktfrau erfahren, dass ein hohes Haus ein Familienmitglied vermisste und wollte genaueres hören. Damit erhoffte sie sich natürlich Informationen, die Miriam weiterhelfen könnten, doch niemand konnte diese Geschichte bestätigen. Zwar versprach man jedes Mal, die Ohren offen zu halten, doch da Catherine nicht zu neugierig wirken wollte, wechselte sie auch ebenso schnell wieder das Thema.
Auf dem Heimweg warf sie ihrer jungen Begleiterin immer wieder vorsichtige, besorgte Blicke zu. Der Besuch auf dem Markt hatte keine neuen Nachrichten außer dem üblichen Klatsch gebracht. Leider fiel Catherine nun auch nichts mehr ein, was aufmunternd wirken könnte. Miriam trug den Korb und versuchte die langsam untergehende Sonne zu genießen. Schließlich brach sie die Stille mit leiser Stimme.
"Das alles hat doch gar keinen Zweck, Catherine." seufzte sie. Die Bäuerin schnalzte mit der Zunge.
"Du darfst nicht so schnell aufgeben, Kind! Schau, du bist doch erst seit zwei Tagen hier! Hab doch etwas Geduld mit dir und lass dir Zeit. Du wirst sehen, plötzlich wachst du auf und alles ist wieder da." Sie schenkte Miriam ein unbeschwertes Lächeln. Aber Miriam schüttelte den Kopf.
"Ich weiß es nicht. Aber wenn mich niemand vermisst…" Ihre Stimme erstarb und sie biss sich auf die Unterlippe, um die Beherrschung nicht zu verlieren.
"Aber Belle! Das ist ein Markt von was weiß ich wie vielen in Marseille! Was erwartest du denn?" Catherine blieb stehen und sah Miriam fest ins Gesicht.
"Und ich wiederhole es noch einmal: Ich habe dich lieb gewonnen! Du bist ein braves Mädchen. Bleib einfach hier und ich hätte endlich eine Tochter." Sie breitete die Arme aus und zog das Mädchen an sich, um sie fest zu drücken.

1 Kommentar:

  1. Für Miriam beginnt also Normalität einzukehren. Eine merkwürdige Normalität so völlig wurzellos.

    Ob Catherine sich bewusst ist, was sie sich da auflädt? Sie hat doch längst eine Vermutung was ihr Hausgast da für einen Hintergrund hat. Und die ersten Gerüchte auf dem Markt wurden ja nun doch schon geflüstert.

    Es ist doch eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie jemand erkennt. Dünnes Eis für die gute Frau. Aber vielleicht vermutet sie ja auch mehr und würde das Mädchen gern als Frau einer ihrer Söhne sehen. Wenn diese Ehe erstmal geschlossen wäre, wäre auch egal, wenn Miriam sich einst erinnert, wer sie ist. Für Verwirrungen würde es sorgen und der Familie sicher einen Batzen Geld sichern. Oder ist die Gute an so schnödem Mammon nicht interessiert?

    Aber nächstens heißt es erst einmal zu überstehen, dass Yanis mit neuen Vermutungen nach Hause kommt. Und immer noch warte ich ja auf die eine zündende Erinnerung, die Miriams Gedächtnis zurückbringt. Wobei in der Zeit bevor es Fotos gibt natürlich schwierig ist, allein aufgrund einer Beschreibung Zugang zu den eigenen Erinnerungen zu finden.

    Viel Glück Miriam. Deine Zukunft ist sicher und doch so ungewiss.

    LG
    Joe

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