Montag, 10. September 2012

Noctambule III: Schlafend im Heu

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Tom mochte seinen Beruf. Stallknecht zu sein verlangte nicht viel Kopfarbeit und die langen Arbeitszeiten störten ihn auch nicht. Dafür verlangte aber niemand von ihm, dass er viel reden musste und es gab auch keinen, der ihn wegen seiner O-Beine auslachte.
Mit Tieren konnte Tom sowieso gut umgehen und er scheute auch keinerlei körperliche Arbeit.
Tom hatte eine gute Arbeit gefunden. Er musste zwar noch vor dem Morgengrauen aus seinem Bett, um die Pferde für die Weiterreise vorzubereiten, aber über den Tag konnte er sich seine Arbeit frei einteilen, wenn nicht gerade ein Ansturm an Reisenden kam.


Hin und wieder gab es auch mal ein krankes Pferd, das seine Anwesenheit über Nacht verlangte, aber das störte ihn nicht. Er schlief sowieso gerne im Heu und das auch ohne ein krankes Pferd pflegen zu müssen.
Heute war recht spät noch eine Kutsche angekommen. Während die Gäste sich im Schankraum bewirten ließen, kümmerte er sich um die Pferde. Der ständige Pferdewechsel ließ leider nie zu, dass er einen tieferen Kontakt zu den Tieren fassen konnte. Er fand das schade, weil er Pferde sehr gerne mochte. Damit sie sich wenigstens wirklich wohl fühlten, ließ er sich viel Zeit mit ihnen, striegelte sie bis sie wieder glänzten, sprach mit ihnen, versorgte kleinere Blessuren und kontrollierte die Hufe.
So wanderte er von Box zu Box und Pferd zu Pferd, vergaß aber dabei niemals, die Laterne mit der flackernden Kerze an die vorgesehenen Haken zu hängen, damit auch ja kein Feuer ausbrechen konnte. Tom war stets sehr gewissenhaft, wenn es um seinen Stall ging.
Besonders der Schimmelwallach, der heute hereingekommen war, hatte es ihm angetan. Ein Schimmel war nur dann wirklich schön, wenn er strahlend weiß war und das konnte man nur mit geduldigem Striegeln und Säubern erreichen. Dass der Schimmel nach einiger Zeit schnaubte und unruhig wurde, störte ihn nicht.
"Hoooo! Bleib friedlich, Weißer. Dauert nicht mehr lang." beruhigte er ihn mit brummender Stimme und tatsächlich wurde der Schimmel wieder ruhiger und spielte nur noch aufmerksam mit den Ohren. Tom lächelte zufrieden über dieses Spiel und vertiefte sich wieder in seine Arbeit, bis er endlich mit dem Resultat einverstanden war. Da er gewusst hatte, dass er die meiste Zeit mit diesem weißen Pferd zu tun hatte, war er zum Schluss erst hierher gekommen, denn nun hatte er sich Zeit lassen können.
Jetzt aber war er müde und freute sich auf eine Mütze voll Schlaf. Er packte ordentlich die Striegel und Bürsten in seine Kiste und verabschiedete sich zärtlich von dem Pferd, indem er dessen Stirn kraulte und die Weichheit der Nüstern noch einmal streichelnd genoss.
"Morgen wirst du strahlen und alle werden dich bestaunen." erklärte er dem Wallach lächelnd. Gähnend trug er seine Kiste in die Stallgasse, verriegelte die Box gewissenhaft und griff nach der Laterne, um sich der einzigen freien Box zuzuwenden, in der er extra für sich frisches Heu verteilt hatte.
Doch noch in seiner Bewegung zur Laterne hielt er verblüfft inne. Tom war nicht besonders schreckhaft und es kam schon einmal vor, dass sich tierliebe Gäste im Stall verirrten. Doch nun staunte er schon sehr über das Bild, das sich ihm bot.
Im weichen Licht der Laterne entdeckte er gerade noch am Rande des Lichtkegels einen sehr großen Mann, der sich auf einen Futtersack gesetzt hatte. Sofort erkannte Tom an der Kleidung, dass dieser Besucher zu den höheren Kreisen gehören musste, auch wenn die Hose nicht mehr besonders sauber war und die Stiefel auch nicht mehr glänzten. Die Stiefel beeindruckten Tom sehr, denn dieser Mann hatte so lange Beine, dass er sich mit Sicherheit seine Reitstiefel Maßschneidern lassen musste. So etwas kostete mächtig viel Geld, mehr als Tom jemals verdienen würde.
Tom ließ sich Zeit mit dem Betrachten des Mannes, der konzentriert auf etwas in seinem Arm schaute. Das Hemd war aus feinem Stoff mit vielen Falten und Rüschen, allerdings hatte es schon saubere Zeiten gesehen. Die langen, schwarzen Haare waren zu einem lockeren Zopf gebunden, aus dem sich einige Strähnen bereits wieder gelöst hatten. Als der Fremde nun seinen Kopf leicht drehte, um ihn anzusehen, flatterte Toms Herz.
Noch nie in seinem Leben hatte er einen schöneren Mann gesehen. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass er jemals auf männliche Schönheit geachtet hätte. Die vornehme Blässe dieses riesenhaften Kerls war nicht zu übersehen, doch am faszinierendsten fand Tom die tiefschwarzen Augen, in denen ein leichtes Lauern lag, das er sich nicht erklären konnte.
"Verzeiht Herr, aber Ihr könnt nicht hier bleiben. Was wollt Ihr überhaupt hier?" fragte Tom so höflich wie möglich. Der Mann schüttelte den Kopf kaum merklich.
"Ich will gar nichts von dir. Eher sie." er deutete mit dem Kopf die Stallgasse abwärts und senkte ihn dann wieder zu dem Bündel im Arm. Tom runzelte verwirrt die Stirn und drehte sich leicht, wobei er die Laterne hob, um besser sehen zu können. Die kleine Gestalt, die dort stand, war kaum richtig zu erkennen. Aber der Fremde hatte von "ihr" gesprochen und die zarte Figur ließ eindeutig auf eine Frau schließen. Aber sah er das richtig? Trug sie wirklich Hosen? Toms Herz schlug höher bei diesem Gedanken und um seinen Eindruck überprüfen zu können, machte er einen Schritt auf sie zu, sodass sie vom Licht seiner Laterne erfasst wurde.
Tom blinzelte irritiert. Sie trug tatsächlich eine Hose, auch wenn sie ihr ein wenig zu groß war. Tom fand diesen Anblick so pikant, dass er sich kaum davon lösen konnte. Als er schließlich doch den Blick nach oben zwang, stockte sein Atem. Er hatte noch nie eine Frau mit kurzen Haaren gesehen, die auch noch sehr zerzaust aussahen. Aber es tat der Schönheit ihres Gesichts keinerlei Abbruch.
Einmal im Monat leistete sich Tom an seinem einzigen freien Tag einen Besuch in der Wirtschaft, die zwar einen ordentlichen Fußmarsch entfernt war, aber wenigstens Frauen beschäftigte, die sich gern mal für kurze Zeit mit ihm auf ihr Zimmer zurückzogen. Die Frauen waren sauber und lieb zu ihm, aber keine erreichte auch nur annähernd eine solche Schönheit.
Vergleiche mit den Damen der hohen Gesellschaft konnte Tom nicht ziehen, denn die Damen bekam er kaum zu Gesicht und meistens waren sie auch nicht zu einem kleinen Plausch mit ihm aufgelegt. Dafür war er zu schmutzig. Er verstand das. Aber die wenigen Blicke auf die Damen hatten ohnehin nur viel Schminke und viel Schmuck sehen lassen.
Tom gaffte diese kleine Frau daher sprachlos an, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Was konnte sie von ihm wollen?
"Würdest du bitte deine Laterne abstellen? Nicht, dass der Stall noch brennt." hörte Tom die sanfte, dunkle Stimme des Mannes hinter sich. Tom sah das ein und hängte folgsam die Laterne an den Haken zurück. Als er sich wieder der Stallgasse zuwandte, zuckte er zusammen. Ohne, dass er hastige Schritte gehört hatte, stand sie nun dicht vor ihm. Sie blickte zu ihm auf, den Kopf leicht geneigt und in den Augen ein hungriges Lauern. Tom atmete schnaufend durch. In diesen Augen konnte man ertrinken. Zum ersten Mal verstand er, was man damit ausdrücken wollte.
Mühsam holte Tom Luft, um seine Frage zu formulieren, doch er kam nicht mehr dazu, sie zu stellen. Er spürte nicht einmal Angst oder Schreck bei dem Anblick des schrecklichen Gebisses, das er für den Bruchteil einer Sekunde erkannte. Tom reagierte nie besonders schnell. Unter dem Gewicht ihres kleinen Körpers taumelte er gegen die Tür der Box hinter ihm und stützte sie sogar im Reflex noch mit beiden Händen. Verwirrt nahm er den Biss wahr, doch noch bevor er darüber nachdenken konnte warum sie ihn biss, wurde ihm warm und ein glückliches Gefühl durchströmte ihn.
Stöhnend sackte er in sich zusammen und schloss die Augen. Was immer sie da gerade tat, sie sollte einfach nicht aufhören.
Anya trank schnell und leckte einmal mehr über die Verletzung, die sich langsam wieder schloss. Als sie sich aufrichtete, stand Armand bereits neben ihr und lächelte ihr mit sanftem Verständnis zu. Sie erwiderte das Lächeln und legte ihre Wange in seine streichelnde Hand, ohne ihren Blick von seinen schwarzen Augen zu lösen. Sekundenlang genossen die Beiden diesen innigen Moment, dann lösten sie sich aus der Starre und Anya nahm ihm behutsam das Kind aus dem Arm.
Armand schleifte den leblosen Körper in die leere Box und legte ihn so, dass er schlafend wirkte. Morgen früh würde man ihn finden und über die Ursache seines Todes grübeln.

"Irgendwie müssen wir Miriam schnell finden. Ich möchte eine sichere Unterkunft für Raoul und dich." meinte Armand auf dem Rückweg. Er hatte Anya fürsorglich den neuen Umhang, den er aus seinem Haus mitgebracht hatte, um die Schultern gelegt und band nun fröstelnd seinen eigenen Mantel zu, denn die Nächte waren noch immer reichlich kühl.
"Ich frage mich andauernd, wo sie wohl sein könnte. Sie kann doch nicht einfach spurlos verschwinden!" Anya blickte nachdenklich auf Raoul. Schade, dass man Miriam nicht einfach aufspüren konnte, wie sie es bei Raoul geschafft hatte. Sie spürte Armands Arm, der sich um ihre Schultern legte und sie näher an sich zog. Lächelnd blickte sie zu ihm auf, dankbar über die Geborgenheit, die er ihr gab. Armand schenkte ihr ein kurzes Lächeln.
"Zumindest denke ich mir, dass die Leute darüber reden wollen. Sie wollen doch sicherlich ihren Nachbarn und Freunden erzählen, dass ein junges Mädchen am Fluss gefunden wurde." Für Armand gab es nur die eine Erklärung, dass Miriam gestürzt war. Es gab sonst keinen Grund für das Blut, das Anya und Sergej entdeckt hatten.
Als Anya plötzlich stehen blieb, schaute er fragend zu ihr hinunter. Sie starrte ins Leere, aber ihre Augen huschten herum, als würde sie einen Gedanken suchen, der sie kurz gestreift hatte. Geduldig wartete er darauf, was ihr eingefallen war. Schließlich sog sie fast schnappend die Luft ein und blickte aufgeregt zu ihm auf.
"Armand, der Priester! Die Kirche! Dort erzählt man doch immer alles! Und wenn nicht, berichten die, die davon gehört haben!" flüsterte sie atemlos. Die Braue des großen Mannes ging überrascht in die Höhe. Was für eine logische, einfache Erklärung! Und weder er noch Sergej hatten daran gedacht. Aber natürlich wusste der Pfarrer der kleinen Gemeinde fast immer über alles Bescheid. Ein anerkennendes Lächeln glitt über sein Gesicht und er hob die Hand, um mit den Fingerrücken über ihre Wange zu streichen.
"Meine Kleine! Du hast Recht. Besuchen wir ihn!" murmelte er lächelnd und hob ihr Kinn an, um sich dann für einen kleinen Kuss zu ihr zu beugen.

1 Kommentar:

  1. Einmal mehr führt KayGee geradezu liebevoll das Futter in die Geschichte ein. :)

    Es ist immer wieder amüsant zu lesen, wie sich soetwas zuträgt. Man wird morgen also einen toten Stallburschen finden. Ob man ausmachen kann, woran er gestorben ist? Wird Yanis davon mitbekommen und die richtigen Vermutungen anstellen?

    Nun geht Anya also auf eine sehr gezielte Suche nach Miriam. Jetzt bin ich aber mal gespannt, ob die Gerüchte sich bis dorthin schon herumgesprochen haben.

    Und außerdem bin ich schwer gespannt, wie Miriams Gedächtnis reagiert, wenn sie von den richtigen Leuten gefunden wird.

    LG
    Joe

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