Samstag, 29. September 2012

Noctambule III - Rückblick: Todesangst

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Jérôme musste nicht zu dem Körper gehen, um zu wissen, was geschehen war. Er erkannte die dunkle, zähe Flüssigkeit, die sich unter den unnatürlich verrenkten Gliedmaßen ausbreitete und spürte Übelkeit aufsteigen. Kalte Panik kroch in ihm hoch. Jérôme folgte seinem Fluchtreflex, warf sich herum und begann zu rennen. Er hatte nicht begriffen, was da gerade geschehen war. Allerdings war nicht schwer zu verstehen, dass hier etwas vor sich ging, was nicht sein durfte.
Das konnte es gar nicht geben und doch hatte er es erlebt.
Sein schwerer Körper war schnell schweißüberströmt und atemlos. Pfeifend und keuchend sog er Luft in die Lungen, wagte aber nicht stehen zu bleiben. Er hatte nicht mehr auf seinen Weg geachtet, sondern war einfach gerannt, fort von diesem schrecklichen Geschehen. Doch irgendwann versagten seine Beine den Dienst. Sie zitterten und fühlten sich bleischwer an. Seine Lunge pumpte nicht mehr genug Sauerstoff in die Muskeln, die nun zu schmerzen begannen. Sein Kreislauf war kurz vor dem Kollabieren, ihm war schwindlig und übel.
Jérôme stützte sich schwer keuchend an einer Mauer ab und versuchte verzweifelt, seine wackelnden Beine wieder unter Kontrolle zu bringen. Schweiß tropfte von seiner Stirn und tränkte seine Kleidung. Mühsam zwang er sich zur Ruhe und redete auf sich selbst ein, dass er einfach nur atmen musste, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann kam wieder das dunkle Lachen.
Obwohl es unendlich viel Anstrengung kostete, zwang er seinen Kopf zur Seite, um sich umzusehen. Der zweite Schock ließ ihn beinahe zusammen sacken, denn Kraft hatte er keine mehr. Neben ihm lehnte dieser große Kerl gemütlich an der Wand. Die Kapuze bedeckte nicht mehr seinen Kopf und zeigte ein blasses Gesicht mit tiefschwarzen Augen, umrahmt von langen, schwarzen Haaren, die zu einem Zopf gebunden waren. Er hatte die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt und betrachtete Jérôme mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Unwillkürlich musste Jérôme an einen Jäger denken, der mit seiner Beute spielte.
Ihm war unerklärlich, wie dieser Mann so ruhig neben ihm stehen konnte. Er selbst war um sein Leben gerannt und völlig außer Atem, doch hatte er weder gehört noch gesehen, dass sein Verfolger zu ihm kam. Das Lauern in den schwarzen Augen ließ sein Herz hastig und unregelmäßig schlagen. Ihm fehlte die Luft, um nach Hilfe zu brüllen, er brachte nicht mehr als ein Krächzen heraus. Dann übergab er sich mit schmerzhaftem Würgen.
Der große Mann blieb ungerührt stehen und sah ihm zu. Völlig geschwächt und mit noch weicheren Beinen als zuvor blieb Jérôme einfach an die Wand gestützt stehen. Seine Arme zitterten so heftig, dass er nach vorne sank und sich mit der Stirn an die kühle Wand stützte.
"Jetzt weißt du schon einmal, wie sich Todesangst anfühlt, nicht wahr?" Die gelassene, dunkle Stimme neben ihm klang kalt. Beinahe hätte Jérôme zustimmend genickt, doch die Erkenntnis, dass es das Ziel dieses unheimlichen Fremden gewesen war, ihm solche Angst einzujagen, ließ ihn mitten in seiner Bewegung inne halten.
"Was habe ich dir getan?" jappste er keuchend und starrte auf sein Erbrochenes unter sich. Der Geruch löste neue Übelkeit aus. Mühsam drehte er sich und sackte mit den Schultern an der Wand in sich zusammen, noch immer stöhnend nach Luft schnappend. Als er wieder aufsah, zuckte er zusammen. Direkt vor seinem Kopf war das weiße Gesicht. Gerade eben noch hätte Jérôme diesem Fremden eine unglaubliche Schönheit attestiert, doch nun begann er innerlich zu beten, denn er glaubte genau in das Gesicht des Todes zu sehen. Sogar in den schwarzen Augen hatte er eben ein Aufglühen bemerkt. Das konnte nur der Teufel persönlich sein!
"Mir nichts!" raunte die Stimme. Jérôme wusste nicht, ob er ein Knurren oder Schnurren gehört hatte, das die Worte untermalte. "Aber denk doch mal an Agnes?" Jérôme sperrte den Mund auf und hielt den Atem an. Agnes! Wie konnte er von Agnes wissen? Was konnte er wissen? Ein neuer Schock schoss wie heiße Lava durch seine Adern und ein heller Ton setzte sich in seinem Gehör fest. Statt einer Antwort kam nur ein lallendes Stammeln aus seiner Kehle.
"Auch sie bekam keine Luft, nicht wahr? Sie hatte schreckliche Angst. So wie du jetzt." Jérôme schüttelte hilflos den Kopf. Bis eben hatte er keinen Gedanken mehr an vorletzte Nacht verschwendet. Er konnte doch nichts dafür, es überkam ihn manchmal einfach! Dann konnte er nichts dagegen tun. Er musste seinem Trieb folgen, ob er wollte oder nicht! Das musste man doch verstehen? Und wer war schon Agnes? Ein hübsches kleines Flittchen, wertlos, arm, alleine. Mehr nicht.
"Lass uns zusammen überlegen, was noch fehlt. Schreckliche Angst. Demütigungen. Schmerzen. Hilflosigkeit. Achja und natürlich das Wissen, dass sie sterben würde." Jérôme sackte tiefer, um Abstand zu diesem schrecklich schönen Gesicht zu gewinnen. Wieder schüttelte er den Kopf, doch auch jetzt schaffte er nur ein Winseln.

1 Kommentar:

  1. Armand kostet es aus. Und er lässt ihn wissen, warum er sterben muss.

    Bis zuletzt möchte der Kerl nicht einsehen, dass er Unrecht begeht.
    Ich frage mich fast ob Armand ihm diesen Gefallen überhaupt heute erweist, oder ob er ihn noch ein paar Tage wahnsinnig werden lässt? :)

    Jedenfalls schockt mich fast ein wenig der Satz: "Es überkam ihn manchmal einfach!" - das klingt als wäre Agnes nicht die erste gewesen!

    Nun bin ich gespannt, ob wir von Jerome noch einmal lesen.
    Er winselt an der Hauswand und windet sich in Angst. Das gefällt mir jedenfalls schon einmal.

    LG
    Joe

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