Samstag, 8. September 2012

Noctambule III: Onkel Maurice

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Das beschauliche Leben gefiel Maurice und Jocelyn ausnehmend gut. Sie hatten es sich in dem verlassenen Kloster gemütlich eingerichtet. Jocelyn erwies sich trotz ihrer jungen Jahre als ausgesprochen pragmatisch und zudem als einfallsreich. Mit ihrem genügsamen Geist störte sie sich nicht besonders an der kargen Einrichtung. Sie war in Armut geboren und für sie war dies hier bereits ein luxuriöses Leben, denn sie war frei und wurde nicht gezwungen, ihren Körper zu verkaufen. Auch wenn sie ihre Freundin Anya vermisste nutzte sie die Zeit bis zur Rückkehr und versuchte Bachforellen in dem kleinen angrenzenden Fluss zu fangen.


Auf dem Markt in der Stadt hatte sie Essig erstanden und experimentierte erneut mit Rezepten für sauer eingelegten Fisch. Die Resultate verkaufte sie auf dem Markt mit großem Erfolg und freute sich maßlos über die Gewinne, die sie allmählich einstrich. Der großzügige Küchenbereich des alten Klosters war zur großen Freude von Maurice nun Jocelyns Hoheitsgebiet.
Immer stärker entdeckte sie die Freude und ihr eigenes Talent zum Kochen, nachdem Maurice ihr geholfen hatte eine neue Kochstelle zu errichten.
Maurice hingegen hatte sich zähneknirschend einer neuen Aufgabe gewidmet, nämlich dem Handwerk. In seiner ganzen Laufbahn als herrschaftlicher Butler hatte er zwar zahllose Handwerker beauftragt, doch niemals mehr zur Reparatur beigetragen als die Arbeiten zu überwachen und sich von dem Ergebnis zu überzeugen. Nun hatte Jocelyn jedoch befunden, dass für Anya und Armand ein Raum absolut verdunkelbar sein musste und es half kein Widerspruch seitens Maurice. Er gab dem hartnäckigen Drängen seiner jungen Schutzbefohlenen nach, nachdem sie Hammer, Säge und Nägel auf dem Markt erstanden hatte und zimmerte mehr schlecht als recht Fensterläden.
Die kleine Jocelyn hatte nicht vergessen, auch Verbandsmaterial zu besorgen und es kam rasch zum Einsatz, denn die Finger des Butlers, die zum Halten der Nägel eingesetzt wurden, erlagen als Erste den Schlägen des Hammers. Mit mühsam unterdrücktem Kichern beobachtete das Mädchen, wie Maurice nach einigen Probeschlägen das erste Mal seine Finger traf und sofort alles fallen ließ.
"Au!" War der erste Ausruf, verbunden mit einem verärgerten und schmerzvoll verzerrten Gesicht. Nach dem dritten Treffer entfuhr Maurice ein deftiges, lautes "Scheiße!", was ihn selbst erschreckte. Mit dem schmerzenden Finger im Mund sah er sich verstohlen um, konnte jedoch Jocelyn nicht entdecken, die hinter einer Säule stand und die Faust auf den Mund presste.
Doch jeden Tag unterbrach Maurice seine Arbeit, um einem Auftrag seines Dienstherren nachzugehen und bei der Poststation nachzufragen, ob eine Nachricht auf ihn wartete. Meistens begleitete er Jocelyn vormittags auf den Markt, doch an diesem Tag wollte er unbedingt die verhasste Arbeit an den Fenstern beenden und so wurde es früher Abend, ehe er sich auf den Weg machte.
Wie immer rechnete er nicht mit einer Nachricht, sondern nur mit einem kleinen Plausch des Stationsmeisters, der Maurice inzwischen schon täglich mit einem Gläschen Wein erwartete. Doch diesmal wedelte er mit einem Brief, der erst vor wenigen Minuten eingetroffen war.
"Und ich dachte immer, du wartest auf Post deiner Angebeteten! Aber der Absender ist ja ein Mann!" feixte er. Maurice rang sich ein Lächeln ab. Die Tatsache, dass Monsieur Sartous geschrieben hatte, war für ihn schon schlechte Nachricht genug, denn sein Herr würde wohl kaum einen Bericht über seinen Urlaub schicken. Zu deutlich erinnerte er sich an die Formulierung des Auftrags: Ich hoffe nicht, dass es einen Grund dazu geben wird und ich mute dir vielleicht eine nutzlose Arbeit auf, jeden Tag zur Stadt zu laufen. Doch muss ich mich darauf verlassen können, dass meine Nachricht an dich auch so schnell wie möglich bei dir ankommt, verstehst du?
Aufgeregt versagte sich Maurice dieses Mal den Wein und öffnete den Brief noch vor Antritt des Rückweges. Die Zeilen waren knapp und ohne große Umschweife: "Maurice! ich benötige umgehend deine Unterstützung in Marseille! Mademoiselle Sanisoise schenkte uns bereits hier einen Sohn. Er ist gesund, doch gibt es andere Komplikationen. Ich erwarte dich so schnell wie möglich in Marseille vor der Kirche Saint Marthe. Meide unter allen Umständen den Bauernhof. A. S."
Sein sonst so gemessener Schritt wurde hastig, als er auf der Stelle seine Richtung wechselte und mit gefurchter Stirn zurück zur Poststation eilte.
"Ha! Du kannst also doch nicht ohne einen kleinen Schluck nach Hause, was?" begrüßte ihn der Stationsmeister vergnügt. Maurice schüttelte den Kopf. Einmal mehr war er froh, sich strikt an die Anweisungen Armands gehalten zu haben, denn dazu hatte auch gehört, immer mit der gesamten Barschaft, die ihm anvertraut worden war, zur Station zu gehen. Nun konnte er bedenkenlos seine Pläne umsetzen.
"Kein Wein. Ich brauche sofort eine Kutsche. Und keine Mulis, wenn ich bitten darf. Ich breche noch heute auf!" Sein neuer Freund riss die Augen auf.
"Gleich eine Kutsche? Hast du reich geerbt oder was?" Sein Scherz verpuffte unbeachtet, denn Maurice war in Gedanken bereits bei seinen Plänen.
"Mindestens zwei Pferde, ausgeruht wenn ich bitten darf." Spätestens jetzt hatte auch der Stationsvorsteher verstanden, dass Maurice jedes Wort ernst gemeint hatte.
"Gott im Himmel, du hast schlechte Nachrichten erhalten, ja? Warum reitest du nicht? Wohin soll's überhaupt gehen?" erkundigte er sich. Maurice zuckte zusammen, als sei er von einem Peitschenhieb getroffen worden. Entgeistert starrte er sein Gegenüber an.
"Reiten?!" jappste er. Es hatte ihn schon Anstrengung gekostet, einen Karren mit einem Muli zu fahren. Erst einmal hatte er eine Kutsche gelenkt und dabei den letzten Stolz eines Butlers aus hohem Hause begraben. Aber nun auch noch reiten zu müssen, erschütterte ihn zutiefst.
"Nun, wenn du es so eilig hast, musst du nur ein Pferd wechseln bei jeder Station. Und es ist billiger." Maurice überdachte den Vorschlag, doch zu seiner Erleichterung fand er mehr Argumente dagegen als dafür.
"Ich kann nicht reiten. Zudem habe ich einiges an Gepäck. Nein, ich brauche einen Wagen." forderte er fest. Der Stationsmeister gab nach.
"Das wird aber nicht billig." warnte er schon einmal vor und da Maurice nur knapp nickend seine Zustimmung gab, hatte er bald einen stabilen Wagen mit großer Ladefläche, die mit einer Plane abgedeckt werden konnte. Der Wagen wurde oft für schwere Transporte gemietet und sollte von zwei starken Kaltblütern gezogen werden, was sofort Maurices Skepsis weckte.
"Das macht am meisten Sinn, Freund. Die Gäule kannst du überall wechseln, davon gibt’s mehr als Kutschpferde und sie sind billiger. Und zuverlässiger. Die halten mehr durch als man glaubt." wurde er belehrt.
Nur kurze Zeit später rollte der Wagen lärmend über den unebenen Weg zum Kloster, wo Jocelyn bereits mit erstauntem Blick auf ihn wartete.
Maurice kletterte vom Bock und drückte ihr den Brief in die Hand.
"Wir müssen packen und sofort aufbrechen." erklärte er knapp. Jocelyn entfaltete den Brief und begann langsam zu lesen. Zwar hatte Anya ihr das Lesen beigebracht, doch brauchte sie Zeit, um die Worte zu entziffern und zu verständlichen Sätzen zu kombinieren. Maurice wuchtete bereits eine Tasche auf die Ladefläche, in die er hastig Decken und Proviant gestopft hatte, als Jocelyn endlich zu Ende gelesen hatte. Ihr Freudenschrei ließ Maurice erstaunt innehalten.
"Ein Sohn!! Sie haben einen gesunden Sohn!" schrie sie und hüpfte händeklatschend auf der Stelle vor Freude. Maurice schämte sich ein wenig. In seiner Sorge hatte er die Geburt völlig verdrängt und nun erst wurde ihm bewusst, dass in dem Brief von einem kleinen Wunder die Rede war. Jocelyn strahlte ihn an.
"Ein Sohn! Anya hat sich so sehr einen Sohn gewünscht! Und er ist gesund! Freust du dich denn gar nicht? Oh, ich kann es gar nicht erwarten, ihn zu sehen!"
"Doch.. schon.. natürlich.." stammelte Maurice, aber das Mädchen hörte gar nicht auf ihn. Sie stopfte den Brief in ihre Schürze und rannte schnatternd in das Haus.
"Meine Sachen packen. Das Fass mit dem Fisch gut verschließen. Hoffentlich hält er wirklich so lange. Stoffe.. wir brauchen Stoffe für das Baby. Ach, verflixt, ich habe gar kein Geschenk!" Aufgeregt sammelte sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, während die Nacht hereinbrach und kletterte schließlich neben Maurice auf den Bock.
"Fertig! Wir fahren ohne Pause, ja? Ach, ich bin so aufgeregt! Und unterwegs bist du wieder mein Onkel, ja? Fahr schon, Onkel Maurice!" strahlte sie ihn an und faltete mit artigem Augenaufschlag ihre Hände, als sie ihn ergeben seufzen hörte.

1 Kommentar:

  1. Nun kehr der Butler also nach Marseille zurück und mit ihm die kleine Jocelyn.

    Ich hatte die zwei auch schon arg vermisst.

    Ich bin gespannt, wie die beiden nun ihren Weg in das Chaos und den Schlamassel finden, welcher da in Marseille angerichtet worden ist.

    Jedenfalls kann es für Sergej nicht schaden, wenn jemand bei der Suche helfen kann, der sich im Tageslicht bewegen kann. :)
    Und die mit Gassenwissen ausgestattete Jocelyn kann ja die Gerüchte der Stadt abgreifen.

    Hoffentlich kriegen sie das alles gebacken und vor allem schaffen sie es zu verschwinden, bevor die nächste Welle der Sanghieri auftaucht.

    Aber irgendwie habe ich da mein Zweifel.

    LG
    Joe

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