Dienstag, 10. Juli 2012

Noctambule III: Zwei Frauen und ein Kind

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Bernadette war müde, aber in ihrem hohen Alter kam der Schlaf erst spät und währte nicht mehr so sehr lange. Auch wenn ihre Knochen nach dem üblichen Tagewerk schmerzten und die alten Gelenke bei jeder Bewegung protestierten, zündete Bernadette nach Einbruch der Dunkelheit eine Kerze an und setzte sich an den groben Küchentisch, um dort die Kleidung ihres Sohnes zu flicken, dessen Schnarchen rhythmisch aus dem Schlafzimmer ertönte.


Marcel war ein guter Sohn. Nach dem Tod seiner Frau im Kindbett war er still geworden. Dankbar nahm er die Hilfe seiner Mutter im Haushalt an und ließ sie wieder bei sich wohnen. So konnte er seine kleine Schweine- und Hühnerzucht weiter führen und das Einkommen reichte für die Beiden immerhin so gut, dass er eine Wäscherin beauftragen konnte, seiner alten Mutter die gröbste Arbeit abzunehmen.
Bernadette beugte den Kopf über das zerrissene Hemd und versuchte, mit den müden, alten Augen im schwachen Kerzenlicht genug zu sehen, um das Hemd so gut es ging wieder zu flicken. Sie hoffte zwar, dass Marcel eines Tages wieder eine gute Frau finden würde, aber sie wollte ihn nicht drängen. Bernadette war müde und hatte bereits geglaubt, nun bald in Ruhe sterben zu können, nun, da sein Sohn endlich eine Familie gegründet hatte. Aber nun wurde sie gebraucht und sammelte Tag für Tag ihre Kräfte, um ihren Jungen ein wenig zu unterstützen, damit er nicht ganz und gar dem Trübsal verfiel.
Ein kummervolles Seufzen entfuhr ihr. Sie selbst hatte vier Kinder verloren. Zwei Söhne waren nun erwachsen und der älteste weit weg in der Hauptstadt, um dort sein Glück zu versuchen. Sie vermisste ihren Ältesten und wünschte sich, er würde einmal eine Nachricht schicken. Dass so gar nichts zu hören war, konnte alles und nichts bedeuten.
Energisch verdrängte sie die Richtung, in die ihre Gedanken zu driften begannen und konzentrierte sich mit zittrigen Fingern erneut auf ihre Aufgabe. Es war still im Haus. Zu still, um nicht wieder in Gedanken zu verfallen, die sie nicht haben wollte. Die Kerze knisterte und flackerte, was Bernadette daran erinnerte, dass sie bald eine neue Kerze brauchen würde.
Dann aber starrte sie die Kerze irritiert an, bis ihr klar wurde, dass das zaghafte Klopfen nicht von dem brennenden Wachs ausging. Es klopfte an der Tür!
Unruhig legte Bernadette das Flickzeug auf den Tisch und erhob sich mühsam. Dass jemand zu dieser späten Stunde an ihre Tür klopfte, war kein gutes Zeichen. Kurz überlegte sie, ob Marcel vielleicht doch nicht oben in seinem Bett lag, doch der wäre ja einfach herein gekommen.
Mit schlurfenden Schritten näherte sie sich der Tür und legte ein Ohr an das grob bearbeitete Holz.
"Wer ist da?" fragte sie unwirsch. Für einen Moment herrschte Stille und schon fragte sich die alte Frau, ob sie sich getäuscht hatte, als eine zaghafte Stimme ertönte, gedämpft zwar durch die geschlossene Tür, aber eindeutig die Stimme einer sehr jungen Frau.
"Zwei Frauen mit einem Kind stehen vor der Tür, Madame. Wir brauchen Hilfe. Wir wurden überfallen. Bitte öffnet uns!"

Verblüfft runzelte Bernadette die Stirn, zögerte aber noch. Warum sollten zwei Frauen um diese Zeit ausgerechnet vor ihrer Tür stehen? Welche Frau würde, wenn sie überfallen wurde, nicht schreiend über die Straßen rennen? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger glaubhaft kam ihr diese Geschichte vor und so verfinsterte sich ihr altes Gesicht immer mehr.
"Was schert mich das? Geht zu Pastor Masour! Der wird Euch helfen." giftete sie durch die Tür und wandte sich ab. Sie würde mit Sicherheit nicht auch noch irgendwelches Pack in ihr Haus holen, auch Frauen konnten andere überfallen und ihnen das bisschen nehmen, was man heutzutage noch besaß.
"Madame, ich flehe Euch an! Meine Freundin ist auf dem Weg hierher niedergekommen! Ich habe keine Erfahrung!"
Bernadette stutzte und blieb stehen. Die flehende Stimme klang allerdings wirklich sehr jung. Was war denn, wenn sie nun wirklich Unrecht tat und die Tür nicht öffnete? Hatte nicht ihr eigener Sohn seine Frau im Kindbett verloren, weil kein Geld für eine Amme da gewesen war? Die Alte seufzte tief und schüttelte den Kopf. Vielleicht würde sie es ja bereuen. Vielleicht könnte sie aber auch einer anderen jungen Mutter helfen und ein unschuldiges Neugeborenes vor dem Waisenhaus retten. Wer weiß denn schon, was richtig und falsch ist?
Mit diesem Gedanken drehte sie sich wieder um und öffnete die Tür einen Spalt, um sich zu vergewissern, dass wirklich nur zwei Frauen vor ihr standen.
Was sie sah, erschreckte sie zutiefst. Das junge Mädchen vor ihr, war über und über mit getrocknetem Schlamm bedeckt. Ganz schrecklich war die unanständige Männerkleidung, die teilweise kaputt aber komplett verschmutzt wirkte. Große braune Augen schauten sie hilflos an und erweichten das alte Mutterherz sofort.
Bernadettes Blick richtete sich auf die junge Frau hinter dem Mädchen. Das blonde Haar war strähnig und ebenso schmutzig wie der Rest der Frau, aber auch noch unweiblich kurz. Die grässliche Blässe der jungen Frau bestätigte ganz offensichtlich, dass es ihr nicht besonders gut gehen konnte. In ihrem Arm hielt sie ein kleines Bündel eng an sich gepresst, das sich leicht bewegte. Als sie nun ihre Augen hob, war Bernadette sofort in einem Bann. Diese blauen Augen waren von einer unergründlichen Tiefe und so klar wie Bergseen. Noch nie hatte Bernadette solche Augen gesehen.
"Wir brauchen nicht viel Platz, Madame und wollen Euch nicht lange belasten. Nur einen Moment zum Aufwärmen und vielleicht einen Schluck Wasser." Als die junge Frau sprach, hatte Bernadette bereits alle Skrupel beiseite geschoben und genickt. Sie öffnete die Tür vollends und machte eine einladende Handbewegung.
Mit einem dankbaren Seufzer huschten die beiden Frauen ins Haus. Bernadette schloss die Tür wieder und blinzelte irritiert. Sie hatte die Hand des jungen Mädchens gesehen. Das war nicht die Hand einer Bäuerin oder Arbeiterin. Dafür war sie viel zu zart und gepflegt.

1 Kommentar:

  1. Da haben die Mädchen aber großes Glück gehabt. Einmal mehr.
    Erst entwischen sie Fabrizio und Enrico auf geradezu wundersame Weise. Und nun finden sie auch noch ein Haus, wo man ihnen nächtens die Tür öffnet.

    Bernadette ist eine gute Frau und Hilfsbereitschaft ist sicherlich nicht selbstverständlich an diesen Orten und in diesen Zeiten.
    Wenn sie aber wüsst, wen sie da einlässt, hätte sie vermutlich lieber alles verriegelt und die Tür mit Brettern vernagelt, als die Mädchen hereinzulassen.

    Doch ich bin sicher, Anya verfügt über genügend Anstand um diesen Leuten nicht den Garaus zu bereiten. Ich denke auch Miriam würde dann ein anderes Bild von ihr bekommen.

    Ich hoffe allerdings, Anya hat schon 'gegessen' Sonst wird das sicherlich langsam schwer. :)

    Liebe Grüße
    Joe

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