Mittwoch, 18. Juli 2012

Noctambule III: Töten um zu leben

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Unterwegs hatte Miriam immer wieder in die Tasche gegriffen und mit Hochgenuss von der Wurst genascht. Anya schmunzelte über Miriams Hunger, doch allmählich wuchs ihr Verständnis, denn auch bei ihr meldete sich erneut der Jagdtrieb. Die Geburt hatte sie geschwächt.


Nicht nur, dass sie noch immer alle Muskeln spürte und wahrnahm, wie sich ihr Körper auch innerlich zurückbildete, auch das Stillen des Babys zehrte an ihr und verursachte ähnliche Hungergefühle wie während der Schwangerschaft.
Für Anya war Miriams Tempo eher ein Spaziergang. Sie äußerte sich nicht dazu, denn Miriam schritt kräftig aus, solange es ihre recht schwache Kondition überhaupt nur zuließ. Aber mit der Zeit wurde sie trotz der recht ebenen Straße, die durch spärlich besiedeltes Gebiet führte, noch langsamer und plumpste schließlich auf eine kleine Mauer.
"Tut mir leid. Ich brauche eine Pause." meinte sie zerknirscht und streckte ächzend ihre schmerzenden Beine. Während sie ihre Oberschenkel mit beiden Händen massierte, ließ Anya sich neben ihr nieder und betrachtete sie amüsiert.
"Zuviel Kutsche gefahren, hm?" stichelte sie, löste aber nur ein Kichern bei ihrer Freundin aus.
"Ja, ja! Ich bin verwöhnt, ich weiß!" wehrte Miriam sich und schob sich noch ein Stück Wurst in den Mund. Schließlich reichte sie Anya den Wasserschlauch, nachdem sie selbst ausgiebig getrunken hatte.
"Ich bin froh, dass du die Alte nicht getötet hast." meinte sie mit plötzlichem Ernst. Anya musterte sie nachdenklich.
"Das wäre völlig unnötig gewesen. Aber ich muss in dieser Nacht trotzdem noch einmal los." Miriam senkte den Blick. In ihr kämpften die verschiedensten Gefühle doch sie wusste nicht, ob sie sie äußern durfte. Schließlich hob sie den Blick und hob entschuldigend die Schultern.
"Ich weiß, das ist jetzt vielleicht dumm, was ich sage, weil ich doch selbst eine von Euch sein will. Aber ich komme nicht so richtig damit klar, dass du tötest.. dass ihr drei tötet." gestand sie schließlich und strich unsicher über die Gänsehaut, die ihre eigenen Worte bei ihr ausgelöst hatten. Anya nickte langsam und blickte auf ihr Kind herunter.
"Das ist nicht dumm. Ich verstehe dich gut." meinte sie leise. Als sie ihren Blick wieder hob, schauten ihre schönen Augen sehr eindringlich.
"Aber was ist mit dem schönen Fleisch, dass du dein ganzes Leben auf dem Teller hattest. Wurde das nicht auch getötet? Worauf kaust du gerade herum? Wurst.. von einem Schwein, das vielleicht vor einem Monat noch zufrieden lebte?" Miriam zuckte zusammen und biss sich auf die Lippen. Die Wurst, die sie mit soviel Hochgenuss gegessen hatte und noch im Mund hatte, schmeckte plötzlich schal. Blinzelnd schluckte sie den letzten Bissen herunter.
"Das stimmt. Aber ich habe es nicht selbst getötet. Ich glaube, ich könnte kein Schwein umbringen." murmelte sie nun verwirrt. Anya nickte und streichelte das schlafende Kind lächelnd.
"Wenn du richtig Hunger hast, noch mehr als vorhin, dann tötest du auch selbst ein Tier. Wenn du ein Kind hast, das am Verhungern ist, wirst du auch töten, um es zu ernähren, glaub mir. Jeder Bauer zieht Tiere groß mit dem Wissen, dass sie sterben müssen, damit er und seine Familie überleben können." erklärte sie sanft. Miriam scharrte verlegen mit den Füßen und atmete tief durch. Anyas Worte leuchteten ihr ein. Von dieser Seite aus hatte sie das Leben noch nie betrachtet. Nun setzte sich aber ein neuer Gedanke in ihr fest, der sie staunend auf ihre Freundin sehen ließ.
"Sind wir Menschen denn Vieh für euch?" hauchte sie nun. Anya musste lachen und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen.
"Ich hatte ähnliche Gedanken wie du, nur dass ich keine Wahl hatte. Ich weiß nicht, was ich in euch sehe. Die Menschen, die ich mag, die mir wichtig sind, die könnte ich niemals anfallen. Das erste Mal war für mich eine ziemliche Überwindung, aber plötzlich war ein wahnsinniger Zwang in mir. Ich musste diesen ersten Mann in meinem Leben töten, denn ich wollte nichts mehr auf dieser Welt als sein Blut. Ich denke nicht darüber nach. Ich muss es tun. Ich will es.. und wenn es vorbei ist fühle ich mich gestärkt, gesund, satt und ruhig. Wir jagen erst, wenn wir wirklich Hunger haben und wenn es für mich unerträglich wird, Blut zu riechen und es nicht zu bekommen. Deines jetzt zum Beispiel. Du duftest gerade unendlich verlockend." Sie lächelte über Miriams erschreckten Gesichtsausdruck und zeigte dabei ihr scharfes Gebiss.
"Passt du noch einmal auf Raoul auf, bitte? Ich beeile mich. Er wird bald Hunger haben." Miriam war froh über die Ablenkung und streckte sofort die Arme nach dem kleinen Jungen aus, der noch friedlich schlief und nur kurz unruhig wurde, als er in Miriams Arme gelegt wurde.
"Natürlich. Komm her, mein Kleiner." lächelnd schaute sie auf das warme, kleine Körperchen und nickte Anya schließlich zu. Die erhob sich und streckte sich kurz. Dann strich sie sanft über die weiche Wange des Kindes, lächelte ihre Freundin an und verschwand in der Dunkelheit, ehe Miriam noch etwas sagen konnte.

1 Kommentar:

  1. Anya geht jagen - das ist auch mehr als bitter nötig. Sergej würde sicherlich wenig glücklich reagieren, wenn seine Geliebte Anyas Hunger zum Opfer fiele.

    Aber das Gerspäch der beiden zeigt einmal mehr, wie doppelbödig das Leben von Vampiren mit Menschen zusammen ist.

    Natürlich sind die Menschen in ihrer Funktion Vieh für die Vampire. Aber der Intellekt, welcher Schlachtvieh eben doch abgeht, verbindet dann mehr als einem vielleicht lieb ist.
    Schön, wie Anya erklärt, dass sie erst jagt, wenn der Hunger nichts anderes mehr zulässt.

    Auch hat Miriam einmal mehr eine Wahrheit erfahren, die sie bislang lieber nicht gehört hätte. Sie sollte entweder sehr viel oder vielleicht gar nicht über solche Dinge nachdenken.

    Liebe Grüße
    Joe

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