Mittwoch, 9. Mai 2012

Noctambule III - Rückblick: Wie du willst

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Er legte seinen Kopf schief und betrachtete sie fragend. Langsam glitten seine Augen über ihr Gesicht, dann über ihren zusammengekauerten Körper.
"Ich habe dich befreit." erklärte er ihr langsam. Wieder löste seine Stimme ein kleines Beben in ihrem Körper aus. Sie nickte langsam, als die Worte endlich auch ihren gelähmten Verstand erreichten. 

Er hatte wohl Recht. Sie war nicht mehr die Gefangene ihrer Mitbürger. Aber dafür könnte sie schwören, seine Gefangene zu sein. Sollte sie es wagen und einen Fluchtversuch riskieren? Aber was würde geschehen, wenn sie ihn wütend machte? Zu ihrem Schreck bewegte er sich wieder. Er streckte seinen langen Arm aus und reichte ihr die Hand.


"Willst du nicht lieber aufstehen? Dort drüben sind bequeme Sessel." bot er ihr an. Inga hatte Mühe, ihre Augen von seinem Blick loszureißen und auf die Hand zu senken. Himmel, war diese Hand groß! War das nun eine Falle? Ängstlich schüttelte sie den Kopf und hielt den Atem an. Er hielt ihr noch eine Weile die Hand hin, bevor er sie wieder sinken ließ. Nun war sie sicher, ein kurzes Zucken seines Mundwinkels gesehen zu haben.
"Nun, dann musst du auf dem harten Boden sitzen bleiben. Ganz wie du willst." Bevor sie reagieren konnte, erhob er sich mit einer fließenden, geschmeidigen Bewegung, die ihr mehr Kraft verriet, als wenn er das Regal zertrümmert hätte. Einen Augenblick betrachtete er sie noch, dann wandte er sich ab und ging zu einem kleinen Tischchen neben dem Kamin. Er ergriff die Weinkaraffe, die dort stand und füllte zwei Gläser mit blutrotem Wein. Eines der Gläser nahm er hoch und hielt es in ihre Richtung und drehte dabei seinen Kopf leicht, doch sie reagierte noch immer nicht. Daher behielt er es für sich und setzte sich in den Sessel. 


Da der Sessel dem Kamin zugewandt war, konnte sie ihn nun gut betrachten. Er würdigte sie keines Blickes mehr, sondern schaute gedankenverloren in das knisternde Feuer während seine langen, schlanken Finger das Weinglas hin und her drehten. Inga nutzte den Moment aus, ihn unbeobachtet mustern zu können. 

Sein Gesicht war markant und hatte die edlen Formen eines Adligen, wie sie fand, ohne dass sie genau wusste, wie ein echter Adliger aussehen sollte. Den Stadtvogt stufte sie nicht als Adel ein und zudem war der ja auch ziemlich fett. Doch bei diesem Mann schien einfach alles zu stimmen. 
Sogar die unheimliche Blässe seiner Haut passte zu dem, was man immer von den vornehmen Leuten behauptete. Die schwarzen Augen waren nun von den langen Wimpern verdeckt, denn er hatte seine Augen halb geschlossen und schien in Gedanken weit weg zu sein. Selbst die langen Beine wirkten völlig entspannt, als habe er ihre Anwesenheit völlig vergessen. Doch dann sprach er wieder.
"Du warst in einer üblen Lage, würde ich meinen." Noch immer sprach er sehr leise und ruhig, doch wieder hatte sie dieses seltsame Gefühl beim Klang seiner Stimme. Obwohl er sie nicht ansah, nickte sie langsam. Aber er sprach schon weiter. "Die Menschen sind seltsam. Weil sie manches einfach nicht verstehen, suchen sie einen Schuldigen und sammeln Beweise. Dabei ist es ihnen völlig einerlei, ob ihre Anschuldigungen überhaupt logisch sind." sinnierte er. Ingas Körper lockerte sich allmählich. Sie verstand nicht, was er von ihr wollte. Hatte er sie wirklich einfach nur gerettet? Wie konnte er so entspannt dort sitzen und sicher sein, dass sie nicht einfach aufspringen und hinter ihm durch die Tür fliehen würde?
"Du hast nur einfach in Ruhe leben wollen, nehme ich an. Und weil du hübsch und gesund bist, weil du dich anders benimmst als man es erwartet, macht man dich einfach zu einer Hexe und will dich einer Prüfung unterziehen, die du niemals überleben wirst." Sie hätte schwören können, dass kurz ein kleines Schmunzeln in seinen Mundwinkeln zuckte, aber es konnte auch eine Täuschung durch das Schattenspiel sein, das das Kaminfeuer auf seinem Gesicht erzeugte.
"Wenn du gehen willst, werde ich dich nicht aufhalten. Auch wenn ich das natürlich tun könnte. Aber ich nehme an, du würdest sehr schnell wieder in die Fänge der Hexenjäger geraten und diesmal nicht ganz so glimpflich davon kommen. Soll ich dir berichten, was man alles mit Hexen anstellt, um ein Geständnis zu erzwingen?" Nun hob er den Kopf und drehte ihn leicht in ihre Richtung. 

Sofort sank Inga wieder in sich zusammen. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Wollte sie wirklich wissen, was er zu berichten wusste? Oder war das sowieso nur erlogen, damit sie aus Angst bei ihm bleiben würde? Sie entschloss sich zu einem Stückchen Mut und schüttelte einfach den Kopf.

1 Kommentar:

  1. Armand ist sehr geschickt. Hat er sich Anya fast mit brachialer Gewalt geholt, so macht er sich Inga anders gefügig.

    Sie fühlt sich zurecht bedroht, sie ahnt unbewusst, dass sie dort mehr vor sich hat, als einen Wohltäter, oder sagen wir: etwas anderes als einen Wohltäter. Auch wenn sie es noch nicht benennen kann.

    Und nun macht er sie mürbe indem er einfach ihre Situation beschreibt. Dabei jedoch wichtige Details auslässt. Nämlich, z.B., wie weit sie sich eigentlich von ihrem Dorf entfernt befindet, wie weit es zur nächsten rettenden Stadt wäre und dergleichen mehr.
    Doch ich bin sicher, soweit denkt Inga gerade nicht. Sie ist froh noch am Leben zu sein und wird alles in ihrer Macht stehende tun um diesen Zustand beizubehalten. Und ganz oben auf dieser Liste steht vermutlich das Vorhaben, dieses 'Raubtier' vor ihr nicht zu verärgern.

    Ich bin gespannt, wie ehrlich er ist, wenn er sie vor die Wahl stellt, zu gehen oder zu bleiben. Was wird er ihr von ihrem zukünftigen Leben verraten?

    Liebe Grüße
    Joe

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