Dienstag, 8. Mai 2012

Noctambule III - Rückblick: Warum?

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Faal (Schweiz) 1573

Als sie erwachte, wusste Inga nicht, wo sie überhaupt war. Sie lag auf dem Rücken und starrte an eine dunkle Holzdecke. Ohne den Kopf zu bewegen, würde sie nichts weiter sehen können, aber sie wagte kaum, tief zu atmen. 

Ihre Finger ertasteten ein weiches Laken unter sich und sie hatte das Gefühl, komplett bekleidet zu sein, was sie schon einmal sehr erleichterte. Aber wo war sie? Und wenn sie nicht in ihrem Schuppen war, sondern dieser Teufel sie geholt hatte, war sie vielleicht sogar schon tot?
Der Gedanke erschreckte sie so sehr, dass sie mit einem kleinen Schrei senkrecht saß und sich angsterfüllt umsah. Sie erkannte ein großes Bett unter sich, einen Kleiderschrank, ein Fenster mit zugezogenen Vorhängen und eine Tür. Das konnte unmöglich die Hölle sein. Dort schmorte man in ewigem Fegefeuer, doch man lag nicht auf einem bequemen Bett, das sich nur ein reicher Mann leisten konnte!



Leise stand sie auf, immer damit rechnend, dass jemand herein stürzte, weil er ihren Schrei gehört hatte. Doch niemand ließ sich sehen. Sie konnte auch nichts hören und das machte ihr Mut. Vielleicht war sie ja ganz alleine? Aber wer hatte sie hier her gebracht und warum? Vielleicht ein heimlicher Retter? Und gehörte ihm dieses Haus oder nicht? Inga rückte ihre Kleidung zurecht und beschloss, dass sie sich zu viele Fragen auf einmal stellte.


Vorsichtig und so leise wie möglich öffnete sie die Türe des Schlafzimmers und erkannte durch den Türspalt einen gemütlichen Teppich auf dem Boden, den Schein eines Kaminfeuers und einen kleinen Teil der Armlehne eines Sessels. Mutig schob sie die Tür weiter auf und entdeckte immer mehr. In dem Sessel schien niemand zu setzen, denn sie erkannte keine Arme oder Beine. Gegenüber war der große Kamin mit dem herrlichen Feuer und zu ihrer Rechten sah sie eine blanke Holzwand mit einer Tür, die nach draußen zu führen schien.
Leise schob sie sich durch den Türspalt und biss sich auf die Lippen, als sie ein Knarren der Tür auslöste. Sie hielt inne und wartete, dann schob sie sich weiter, bis sie im Raum stand. Zu ihrer Linken fand sie einen kleinen Tisch neben dem Sessel und ein Regal in dem zwei Flaschen Wein und ein Glas standen. Wer sich Wein leisten konnte, musste reich sein oder doch wenigstens wohlhabend. Ingas Herz schlug bis zum Hals. Sie war ganz allein in diesem Haus? Sie musste sich einfach nur umdrehen und zur Tür hinaus spazieren und niemand würde sie aufhalten?
Aber wohin sollte sie gehen? Ihr Verschwinden würde den Dorfbewohnern nur bestätigen, dass sie mit übernatürlichen Kräften verbunden war. Man würde sie auf der Stelle töten und wenn nicht, dann nur, um sie schrecklich zu foltern und dann erst zu töten. Trotzdem wollte sie wissen, ob sie frei war oder nicht. Vielleicht war es dumm, aber sie wollte wenigstens wissen, ob sie die Tür öffnen konnte. Als sie sich umdrehte, stieß sie einen gellenden Schrei aus, stolperte zurück und fiel über den kleinen Tisch.
Er musste die ganze Zeit hinter der Tür gestanden haben. Nun konnte sie ihn im Halbschatten erkennen. Wimmernd kroch sie auf dem Boden rückwärts bis sie an das Regal stieß und starrte zu ihm auf. Er schien fast die Decke zu erreichen. Das flackernde Licht des Kamins spielte mit seinem Schatten an der Wand und beleuchtete sein Gesicht. Doch auch im Licht des Kamins wirkte seine Blässe unnatürlich und erschreckend. Bebend suchte sie nach einem passenden Gebet, aber ihr wollte einfach keines einfallen.
Er rührte sich nicht, sondern betrachtete sie ernst. Seine schwarzen Augen bohrten sich in ihre und Inga hatte das Gefühl, den Bodenkontakt zu verlieren. Sie begann am ganzen Leib zu zittern und konnte doch nicht abstreiten, eine gewisse Faszination zu verspüren. Warum tat er ihr nichts? Warum stürzte er sich nicht auf sie, brüllte oder verwandelte sich wenigstens in irgendetwas Schauriges? Warum sah er so unendlich gut aus und strahlte dennoch eine Gefahr aus, die sie überhaupt nicht einordnen konnte? Warum bebten die Flügel seiner edlen Nase so seltsam, als würde er ihre Fährte wittern?


Inga brachte noch immer keinen Laut heraus und drückte sich mit angezogenen Beinen an das Regal, das sie im Rücken spürte, die Arme fest um die Beine geschlungen, was sie zu einem elenden kleinen Bündel werden ließ. 

In diesem Moment bewegte er sich. Langsam löste er sich von der Wand und kam auf sie zu, ohne den Blick von ihr zu lösen. Inga zog die Schultern hoch und fror erbärmlich, obwohl es in diesem Raum angenehm warm war. Er blieb kurz vor ihr stehen und sank in die Hocke, doch noch immer wirkte er riesig groß. Er stützte seine Arme auf den Knien ab, berührte sie aber nicht einmal mit den Fingerspitzen. Inga glaubte, ein kurzes Lächeln in den dunklen Augen zu sehen und blinzelte.
"Die Menschen in deinem Dorf sagten dir, dass sie dich umbringen wollen und du hast geschrien, gebettelt und gekämpft. Ich habe noch gar nichts gesagt, doch du bist ein winziges Häufchen voller Todesangst. Warum?" Seine dunkle Stimme fühlte sich an wie das zufriedene Schnurren einer Katze, samtig und wohlig und gleichzeitig prickelnd. Hinzu kam sein starker, französischer Akzent, der seine Aussprache zu einem faszinierenden Singsang machte. Inga starrte ihn an und versuchte, die Frage richtig zu verstehen. Begriff er denn nicht, dass er ihr viel mehr Angst einjagte, als die Menschen? Wie sollte sie ihm das erklären? Sie öffnete den Mund, doch noch immer brachte sie keinen Ton über die Lippen. Hilflos schüttelte sie den Kopf.

1 Kommentar:

  1. Ohhh.. mit dem Kaminschatten spielen. Ganz die alte Gandalf-Schule. Schön gemacht, Armand.

    Arme Inga hockt da vor ihm und sieht nur das Monster in den tanzenden Schatten des Kamins. Ob sie noch mehr schreien würde, wenn sie wüsste, was er wirklich will?

    Aber noch ist sie nicht nackt. Er hat es sich also noch nicht genommen.

    Liebe Grüße
    Joe

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