Freitag, 25. Mai 2012

Noctambule III - Rückblick: Kribbeln im Fuß

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Rascal hatte schon viele Kumpel kommen und gehen sehen. Gott hatte es gut mit ihm gemeint und seine Gesundheit all die Jahre hier bewahrt. Inzwischen war Rascal davon überzeugt, dass seine kleine Tochter Merlé nur deshalb so früh hatte sterben müssen, damit sie ihm nun als Schutzengel zur Seite stand. Wann immer eine Gefahr drohte, kribbelte es in seinem linken Fuß und immer rechtzeitig, um nicht nur sich selbst in Sicherheit zu gelangen, sondern auch noch viele seiner Kumpel vorzuwarnen und damit zu retten.


Rascals Gesicht war zerfurcht und voller Narben von Steinsplittern, die beim Schlagen abgesprungen waren und seine Haut verletzt hatten. Sein mageres Antlitz hatte durch eine besonders tiefe Narbe über dem linken Augen sogar ein recht düsteres verliehen bekommen. Die Narbe teilte sogar seine linke Braue noch in zwei gleiche Teile, aber wenn andere die linke Braue hoben, so hob er nur noch den äußeren Teil.
Trotz allem strahlten seine Augen etwas Gütiges aus. Er war selbst ein ruhiger Mann, der nicht viel an Gesprächen teilnahm, er hörte lieber anderen zu und dachte sich seinen Teil. Aber er war beliebt und so manch ein Kamerad nahm seinen alten Knochen einen Weg ab, brachte ihm einen Teller zu Essen oder einen Krug Bier.
Der Neue, dieser lange Lulatsch, war ihm sofort aufgefallen. Zum einen lag das an der Größe, mit der er alle anderen weit überragte, zum anderen war aber auch Merlé schuld. Diesmal kribbelte nicht sein linker Fuß, sondern die rechte Hand. Rascal verstand das nicht. Was wollte seine Merlé ihm damit sagen? War er in Gefahr? Warum hatte dann nicht sein Fuß reagiert? Oder war diesmal genau das Gegenteil der Fall und dieser junge Mann würde ihm Glück bringen? Andererseits fragte sich Rascal, welches Glück einem alten Mann, der Weib und Tochter verloren hatte, noch beschert werden sollte.


Nichts desto Trotz behielt Rascal den Burschen im Auge. Er selbst arbeitete gerne nachts, denn es war ruhiger und besonders wenn die Sterne am Himmel zu sehen waren, fühlte er sich Merlé viel näher. Nur wenn er direkt am Ofen eingeteilt war, konnte Rascal lediglich in den Pausen hinaus. Dort setzte er sich dann ans Feuer, löffelte dort seinen Eintopf und streckte die müden Knochen aus. Er sprach in Gedanken viel mit Merlé, was ihm den Ruf des Schweigsamen eingehandelt hatte. 

Merlé antwortete zwar nicht, aber er spürte sie dann ganz nah, hörte ihr helles Lachen oder sah sie mit ihren blonden Locken, wenn sie mit ausgestreckten Armen auf ihn zu lief. Wenn er dann verträumt vor sich hin lächelte, stießen sich die Kumpel mit dem Ellbogen an und grinsten verständnislos. Der Alte war eben ein Sonderling. Davon gab es viele hier. Das Silber war gefährlich. Entweder tötete es einen oder machte ihn verrückt.

Rascal kümmerte sich nicht darum, was die anderen wohl dachten. Sollten sie ihn für einen harmlosen Spinner halten, solange sie ihn in Ruhe ließen. Und das taten sie.
In dieser Nacht beobachtete er einmal mehr, wie dieser junge Kerl kraftvoll und dennoch scheinbar mit Leichtigkeit die rohen Barren der ausgehärteten Bleiglätte abtransportierte. Beeindruckt beobachtete er den stillen Riesen, der offenbar überhaupt keine Ermüdungserscheinungen zeigte, und versuchte sich daran zu erinnern, wie er als junger Mann gearbeitet hatte. Damals war er ein gutaussehender, starker Bursche gewesen, den die Mädchen nur so angehimmelt hatten. 

Doch neben diesem Hünen verblassten die anderen. Aber dessen schien sich der große Kerl nicht bewusst zu sein. Nachdenklich legte Rascal den Kopf schief und beobachtete weiter, während er auf dem zähen Fleisch herumkaute und nervös den linken Fuß bewegte, der zu kribbeln begann.

Ein dumpfes Rauschen ließ Rascal plötzlich innehalten und aufhorchen. Unruhig ging sein Blick zu den Öfen, die in großen Abständen in einer Reihe aufgebaut waren. Die Öfen waren nicht besonders hoch, dafür aber breit und wurden von mächtigen Blasebalgen angeblasen, damit das Feuer seine Temperatur behielt und – was viel wichtiger war – die Sauerstoffzufuhr gewährleistet blieb, die das Absetzen des Silbers vom Erzstaub förderte. Das Poltern und Rauschen bemerkten auch die anderen Arbeiter. Viele hielten in ihrer Arbeit inne und sahen sich fragend um.
Sämtliche Alarmglocken läuteten in Rascals Kopf und er sprang auf. Das hatte er schon erlebt und seine Sinne waren für die Vorzeichen geprägt. Doch die wenigsten der Kumpel hier hatten es schon erlebt, geschweige denn überlebt. Der Teller polterte auf den Boden und verschüttete seinen Inhalt, doch Rascal achtete nicht darauf. Hektisch fuchtelte er mit den Armen und begann zu brüllen:
"Weg von den Öfen!! Lauft, ihr Idioten!" Er schrie seine Warnung wieder und wieder. Doch der Einzige, der sofort regierte, war der junge Riese. Sein Blick schnellte zu Rascal, dann ließ er alles fallen und war in der nächsten Sekunde verschwunden. Das Rauschen schwoll an, nur einen Lidschlag später erhellte ein blendender Blitz die Anlage und ein ohrenbetäubender Knall ertönte, dessen Druckwelle die Trommelfelle der Umstehenden zum Platzen brachte. Alarmglocken läuteten irgendwo auf, glühende Metallbrocken und flüssige Ofeninhalte prasselten auf die Männer nieder, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können. Bäume und Baracken fingen Feuer und Männer wälzten sich brüllend am Boden.
Rascal war durch die Luft geschleudert worden und rappelte sich betäubt wieder hoch. Er spürte Blut an seiner Schläfe herunter laufen und verschmierte es bei dem Versuch, es wegzuwischen.
Das Inferno schien sich auszubreiten. Erz- und Kohlestaub in der Luft fing knisternd Feuer und bescherte den Rettungsmannschaften einen Funkenregen, der Kleidung und Haut verbrannte. Befehle wurden gebrüllt, Wassereimer herangeschleppt und Verletze geborgen. Rascal entdeckte den Hünen, der plötzlich wieder da war und sich zwei Männer gleichzeitig schnappte, die schwer verletzt am Boden lagen, um sie in Sicherheit zu bringen. Der alte Mann blickte verstört umher, ohne sich entscheiden zu können, wo er am hilfreichsten zupacken konnte. 

Dann kam die zweite Explosion. Erneut traf ihn die Druckwelle und warf ihn um. Er stürzte gegen einen harten Widerstand und spürte, wie die Hitze der Explosion über sein Gesicht fuhr. 'Jetzt nicht atmen, oder es verbrennt deine Lunge!' dachte Rascal und verlor das Bewusstsein.

1 Kommentar:

  1. Unfälle sind ja heute noch nicht selten. Ein Hochofen ist eine höllische Angelegenheit. Heißer als die Oberfläche der Sonne, verbrennt dort Erz zu Metall.

    Eine solche Wucht, mag man sich kaum vorstellen zu spüren. Es mag einen im Ganzen erschüttern.

    Doch nun was? Nicht atmen, ist auf Dauer auch keine Lösung. Armand dürfte das Unglück ja zu passe kommen. Er selbst war schnell genug weg und die sterbenden Gießereiarbeiter wird nachher sicherlich keiner zählen, geschweige denn Untersuchen.

    Aber welche Rolle wird der gute Rascal spielen? Die zwei Sonderlinge werden schon noch ihre gemeisame Rolle zu spielen haben.

    LG
    Joe

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