Dienstag, 1. Mai 2012

Noctambule III - Rückblick: Die Hexe

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Drei. Für eine Inhaltsübersicht zu bereits veröffentlichten Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule III

Sie hatte die junge Elster in einen Korb gesetzt, den sie mit weichem Gras ausgelegt hatte und versuchte die ganze Nacht hindurch immer wieder, kleine Würmer und Schnecken aus dem Garten in den weit aufgesperrten, hungrigen Schlund zu stopfen. Doch die Würmer krabbelten immer wieder heraus, weil die Elster nicht schluckte. Erst im Morgengrauen kam ihr die Idee, dass sie einen langen, dünnen Stab brauchte, der den Schnabel der Eltern ersetzen sollte. Damit würde sie die Würmer tief genug in den Rachen stecken können und bei der Elster den Schluckreflex auslösen.



Vielleicht hatte der junge Vogel ja auch einfach Angst in der fremden Umgebung. Sie nahm den Korb und trug ihn in den Garten, wo sie ihn abstellte, um einen Schnabelersatz zu finden. Schließlich band sie zwei dünne Stöckchen an einem Ende zusammen. so konnte sie mit dem offenen Ende nach den Würmern greifen, mit den Fingern wieder zusammendrücken und dann ihrem Schützling in den Hals schieben.
"Nimm schon, du kleiner Dummkopf! Versuch es doch wenigstens!" Fürsorglich hockte sie sich vor den Vogel und versuchte es geduldig wieder und wieder. Doch schließlich reckte die Elster krächzend den Hals, schlug mit dem gesunden Flügel und fiel dann zuckend auf die Seite. Inga streichelte den kleinen, schwarzen Kopf traurig.
"Ach, Kleiner… es tut mir so leid. Mein armer Kleiner…" Sie blieb eine Weile vor dem toten Vogel hocken, dann nahm sie ihn in die Hand, um ihn weiter hinten im Garten zu begraben. Als sie sich aufrichtete, blickte sie in die argwöhnischen Augen ihrer Nachbarin Helga. Sofort schlug ihr Herz schneller. Helga hatte ihren Mann und zwei Kinder durch die Pest verloren. Das jüngste Kind und sie versuchten nun verzweifelt, irgendwie zu überleben in dieser düsteren Zeit. Meistens waren sie auf die Almosen der Dorfbewohner angewiesen, so wie Inga auch, wenn die Ersparnisse von Magnus aufgebraucht waren. Doch schweißte das die beiden Frauen nicht zusammen. Der Argwohn in Helgas Blick aktivierte alle Alarmglocken bei Inga.
"Du treibst seltsame Dinge." murmelte Helga nun und zeigte eine faulige Zahnreihe. Inga streckte die Hand mit dem toten Vogel hoch.
"Nein, ich habe doch nur versucht.." Helga ließ sie nicht zu Enge sprechen. Kreischend wich sie zurück und hob die Hände.
"Bleib weg von mir, du Hexe! Komm mir nicht zu nah!" Fassungslos sah Inga der Frau hinterher, die immer wieder die letzten Worte wiederholend in das Nachbarhaus flüchtete. Ingas Magen hatte sich zu einem kleinen Klumpen verformt. Seufzend begrub sie den toten Vogel und ging zurück in ihr Haus. Wenn Helga so weiter machte, würde sie den Verstand verlieren. Oder vielleicht hatte sie das schon. Auf jeden Fall waren Helgas Worte eine schlimme Bedrohung, die Inga sehr zu schaffen machte.
Einen Tag später erst traute sich Inga wieder in ihren Garten, um ein paar frische Kräuter für ihren Tee zu sammeln. Es war ein milder Tag und die Sonne zeigte sich endlich mal wieder an einem wolkenlosen Himmel. Ingas Laune stieg sofort an. Den ganzen Tag verbrachte sie summend in ihrem Garten, grub kleine Grasflächen für neue Beete um und fand, dass ihre düsteren Gedanken der letzten Tage doch nur das Produkt der trüben Regentage gewesen sein konnten.
Als sie fertig war, widmete sie sich ihrer Wäsche und schrubbte stundenlang auf dem Waschbrett. Es begann bereits zu dämmern, als sie endlich die Wäschestücke alle aufgehängt hatte, aber das machte nichts. Die Luft war mild und sicher würde die Wäsche morgen im Laufe des Tages trocknen. Zufrieden trocknete sie ihre Hände an der feuchten Schürze ab als aus Helgas Haus ein markerschütternder Schrei zu hören war.
"Neeeein!! Nicht auch noch mein letztes Kind! Nicht auch noch mein Jüngstes!! Neineinein!" Inga spürte wie die Gänsehaut ihren ganzen Körper überrollte. Helga stürzte aus dem Haus. Sie hatte sich die Haare so heftig gerauft, dass sie nun zu allen Seiten abstanden und ihre Fingernägel hatten tiefe Rillen in ihre Stirn gezogen, aus denen nun kleine Blutstropfen quollen. Als Helgas vom Weinen gerötete Augen auf Inga fielen, stürzte sie direkt auf sie zu und schlug mit überraschender Kraft gegen Ingas Brust.
"Du hast mein Kind verhext! Du hast sie alle verhext, du elende Schlampe! Du hast meiner Familie die Pest gebracht!" schrie sie keifend und feuchter Speichel traf Ingas Gesicht. Inga versuchte, die verzweifelte Frau abzuwehren und floh gleichzeitig rückwärts, bis sie mit dem Rücken an den kleinen Zaun zu ihrem Kräuterbeet stieß.
"Sei doch vernünftig, Helga! Das habe ich nicht getan!" Doch Helga tobte weiter auf sie ein, riss an Ingas Haaren und schlug in ihr Gesicht. Ihr Geschrei holte weitere Nachbarn auf die Straße und zwei Männer ergriffen Helga, um sie von der verstörten Inga wegzuziehen. Doch Helga tobte weiter und versuchte, sich loszureißen.
"Nicht mich müsst ihr packen, ihr Trottel! Sie ist eine Hexe! Jawohl, eine Hexe!" Helgas Geschrei und Gezeter lockte immer mehr Menschen in den Garten und schließlich auch den Pfarrer, der hastig Weihwasser auf Helga spritzte. Das kühle Wasser brachte Helga wieder etwas zur Vernunft, doch nur so weit, dass sie klarer reden konnte.
"Sie hat meine Kinder verflucht! Sie hat unser Dorf vernichtet! Sie ist ein Kind des Teufels!" giftete Helga erneut. Inga schüttelte wild den Kopf und starrte flehend auf den Geistlichen.
"Das ist nicht wahr!" widersprach sie. Doch ihr bettelnder Blick traf auf zwei kühle, abweisende blaue Augen. Der Pfarrer bekreuzigte sich und nickte zwei Männern zu, die Inga sofort am Arm packten.
"Wie soll sie das getan haben, Helga? Was hast du gesehen?" fragte er nun barsch die Frau, die sich zunehmend beruhigte, aber nun zu weinen begann.
"Immer wieder sehe ich sie murmelnd in ihrem Garten! Ständig gräbt sie in der Erde und gestern habe ich sie endlich dabei gesehen! Ein Ritual mit einem Vogel. Gemurmelt hat sie, als das arme Tier starb! Da hinten!! Da hat sie ihn verscharrt! Und heute ist mein Kind krank!" Die Stimme wurde wieder schriller, doch der Pfarrer achtete nicht weiter auf sie. Er nickte einem Mann zu, der mit wenigen Schritten bei dem frisch umgegrabenen Beet war und daneben den kleinen Fleck Erde mit den Händen aufwühlte. Bald schon prallte er keuchend zurück und ein weiterer Mann hielt seine Fackel in das kleine Loch.
Maden krabbelten über die stumpfen, blauschwarzen Federn der toten Elster, der Leib war aufgequollen und der Schnabel weit geöffnet. Ein Wurm bahnte sich gerade seinen Weg durch den Schnabel in den Rachen. Lautes Gemurmel erfasste die Gruppe und der Pfarrer bekreuzigte sich. Inga wurde wild.
"Er ist doch nur verhungert, weil er aus seinem Nest fiel! Ich habe ihm nichts getan! Und Helga auch nicht!" Sie verstummte, als sie in das hämisch grinsende Gesicht Manfreds schaute.
"Sie ist eine Hexe, bei Gott! Erst gestern wollte sie mich umgarnen und mir den Kopf verdrehen!" erklärte er und richtete seinen Finger anklagend auf sie. Sprachlos klappte Ingas Mund auf und wieder zu.
"Drei Jahre lang hat sie ihrem guten Mann kein Kind geschenkt!" keifte nun eine vierfache Mutter aus dem Dorf. Inga starrte fassungslos von einem zum anderen. Die Menge heizte sich immer mehr auf. Als der Pfarrer sich zu ihr umdrehte, funkelten seine Augen hart.
"Sperrt sie in ihren Schuppen ein! Morgen bringen wir sie in die Stadt. Der Bischof soll entscheiden. Sicher wird er ein Gottesurteil vollziehen!" rief er. Kaum hatte er ausgesprochen, als Inga grob durch den Garten geschleift wurde. Der Schuppen, in dem sie ihre Kräuter und bei Regentagen ihre Wäsche trocknete, wurde aufgerissen, Inga mit brutalem Schwung hineingeworfen. Sie prallte an die hintere Wand und rutschte benommen zu Boden.
Die Tür wurde geschlossen und mit einer Kette verriegelt. Helgas Gesicht erschien an dem kleinen Fensterkreuz der Tür und spuckte in Ingas Gesicht. Warm und zäh spürte sie den Speichel auf ihrer Wange und wischte ihn angewidert fort.
"Du wirst ersaufen oder verbrennen! Recht so! RECHT SO!" kreischte Helga, ehe man sie wegzog. Schwere Stiefel stapften davon, das Murmeln der Menschen wurde leiser. Ein Bauer setzte sich neben den Schuppen und stopfte sich ein Pfeifchen für die lange Nachtwache. Und Inga sank wimmernd zu Boden. Sie hätte den Ort verlassen sollen. Aber nun war es zu spät.

1 Kommentar:

  1. Die Hexenjagd war also auch in der Schweiz aktiv? Das wusste ich noch gar nicht. Aber in die Zeit passt es ja leider. Und sie ist auch noch bewandert in der Kräuterkunde. Das könnte Inga zum Verhängnis werden.

    Für eine lächerliche Nichtigkeit hat man sie nun als Schuldige auserkoren.
    Und in Zeiten, wo die Pest wütet wird nur allzu gern jeder Strohhalm genommen. Und sei es die Schuldzuweisung an jemand der sich nicht konform verhält, oder von dem man es nur glaubt.

    Arme Inga. Wie kommst du da nur wieder raus?

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