Samstag, 1. Oktober 2011

Noctambule II: Der alte Sanghieri

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Armand sah sich hastig um. Zwar strahlte der alte Vampir keinerlei Bedrohung aus, doch waren seine Erinnerungen mit diesem Alten wahrlich nicht die Besten und er erwartete automatisch einen Angriff der Söhne. Doch Sanghieri hob begütigend die Hand.

"Ich bin alleine hier, während meine Söhne und ihre Leute die Stadt nach Euch durchkämmen, junger Mann! Euer Brief hat unsere Familie in hellen Aufruhr versetzt." meinte er schmunzelnd und sank ächzend auf die Stufen hinunter. Als er endlich saß, klopfte er einladend neben sich und lud Armand damit ein, sich neben ihn zu setzen. Armand entspannte sich wieder, doch jagten etliche Fragen durch seinen Kopf.
"Es ist ebenso selten, von einem Vampir direkt vor einer Kirche zum Sitzen aufgefordert zu werden." erwiderte er leicht lächelnd und nahm wieder Platz. Während er seine langen Beine von sich streckte und fragend Sanghieri sah, stellte er fest, dass dieser ihn intensiv musterte und glaubte sogar ein leichtes Mitgefühl in dessen Augen zu erkennen.
"Euer Lächeln ist traurig, denn Eure Augen sprechen eine ganz andere Sprache als Eure Lippen." Der Alte nickte und stützte beide Hände bequem auf den Knauf seines Stockes. Armand nickte nur und blickte auf die silbernen Buchstaben in seiner Hand.
"Warum seid Ihr hier? Ich hoffte, Ihr würdet meiner Bitte Folge leisten und drauf warten, dass meine Gefährtin bei Euch eintrifft?" Das waren wohl die wichtigsten Fragen, die ihm durch den Kopf schossen, aber er musste erfahren, dass alte Menschen sich kaum von alten Vampiren unterschieden. Sie ließen sich Zeit mit ihren Antworten und stellten die Ungeduld der Jungen auf eine harte Probe. Das bleiche, faltige Gesicht hob sich zum Himmel, als müsse Sanghieri die Antwort in den Sternen suchen, die über Marseille funkelten.
"Euch zu finden ist nicht weiter schwer, mein Junge. Ihr seid so offen wie die Tore von Rom im Moment." meinte er schließlich und wandte seinen Blick wieder zu Armand. "Ich las in Euren Zeilen tiefe Sorge, den Ruf um Hilfe und offene, ehrliche und verantwortungsvolle Sorge. Das Gleiche spürte ich, als ich Euch suchte und nur das ist auch der Grund, warum ich mich zu Euch gesellte. Lasst uns unsere unschöne erste Begegnung vergessen und noch einmal von vorne beginnen." schlug er vor und fügte mit einem Zwinkern hinzu: "Naja und ich mag diese mutige kleine Frau, die so selbstlos um Euch kämpfte."
Armand war mehr als verblüfft. Es hatte schon an ein Wunder gegrenzt, dass Sanghieri ihn hatte laufen lassen. Dass dieser nun hier, mitten in Marseille und weit weg von seinem Einflussbereich, neben ihm saß, konnte er noch immer nicht recht fassen. Langsam neigte er zustimmend den Kopf und wartete stumm weiter auf die Antworten seiner Fragen. Sanghieri spannte ihn nicht weiter auf die Folter.
"Nun, Euer Brief hat uns alle sehr erschüttert. Wie Ihr wisst, ist unser Nachwuchs selten und höchst schützenswert. Ihr schreibt, dass sie noch nicht lange zu uns gehört und wenig Wissen über sich und ihre neuen Möglichkeiten besitzt. Das macht sie hilflos und schwach. Sie benötigt dringend die Unterstützung der Familie und deswegen sind wir hier." Er nickte vor sich hin und blickte über den Platz, der sich unter ihnen ausbreitete.
"Aber Ihr kennt uns nicht gut, wir haben Euch angegriffen und verletzt? Wie könnt Ihr das alles so beiseite schieben?" hakte Armand ungläubig nach. Sanghieri drehte den Kopf zu ihm und die alten Augen wirkten gütig und geduldig.
"Du hast nie in einer richtigen Familie gelebt, nicht wahr? Ihr seid Vampire, wir sind Vampire. Also sind wir alle eine Familie, auch wenn wir nicht aufeinander hocken. Man hilft einander." Sanghieri war erneut zum vertrauten "Du" übergegangen, was Armand ein Lächeln entlockte. Noch immer schwieg er verblüfft, daher sprach Sanghieri nach einer Weile ruhig weiter.
"Das habe ich damals auch George gesagt. Aber da habe ich wohl dem falschen vertraut. Auch bei uns gibt es immer wieder schwarze Schafe. Mir tut das alles sehr leid. Ich brauchte einige Tage, um das was ich in dir sah, zu verarbeiten und zu verstehen. Ich habe mich in meinen alten Tagen doch tatsächlich noch einmal wie ein dummer junger Hitzkopf verhalten." Nun klang seine Stimme wieder brüchig und alt, was Armand aufblicken ließ. Aber Sanghieri blickte zu den Buchstaben in seiner Handfläche hinunter und tippte mit einem Finger dagegen.
"Das gehört ihr, denke ich?" Armand nickte und atmete tief durch.
"Wir müssen sie finden. Wir können sie nur nicht aufspüren. Niemand kann sie wahrnehmen und auch sie ist in dieser Beziehung wie taub." berichtete er. Der Alte seufzte und schüttelte den Kopf.
"Armes Kind. Ab und zu passieren solche Unfälle bei der Schaffung eines Unreinen. Sie wird andere Fähigkeiten haben, die wir noch finden werden. Das macht sie nicht schlechter als uns andere." versuchte er Armand zu trösten.
"Sie war so gut wie tot. Es ist ein Wunder, dass sie es doch noch schaffte. Aber ich konnte sie schon vorher nicht lesen." erklärte dieser, als müsse er Anya vor einem Vorurteil beschützen. Sanghieri nickte beschwichtigend.
"Das erklärt es. Sie hatte wohl schon als Mensch Fähigkeiten, die sie nur unbewusst einsetzt. Sie muss noch viel lernen." Der Alte erhob sich ächzend und stützte sich so wackelig auf seinen Stock, dass Armand hilfsbereit aufsprang und sich fragte, wie der alte Mann die weite Strecke so schnell hatte zurücklegen können. Er musste sehr erschöpft sein.
"Genug jetzt. Zeig mir deine Unterkunft, mein Junge. Ich brauche etwas Ruhe und ich spüre George in dieser Stadt. Auf dem Weg wirst du mir alles berichten, was ich wissen muss." entschied er und Armand kam keine Sekunde auf die Idee, zu widersprechen.
"Wieviele sind mit Euch gekommen, Signore?" erkundigte er sich.
"Nur sechs. Meine beiden Söhne und vier zuverlässige Leute. Wir müssen die Stadt gezielt durchsuchen. Das Abenteuer will ich mir nicht nehmen lassen. Es ist wie ein Jungbrunnen!" er kicherte. "In Florenz sind genug von uns, die Anya erwarten und aufnehmen werden, wenn sie dort auftaucht." versicherte er. "So, und nun wünsche ich einen detaillierten Bericht, junger Mann. Und zwar die Wahrheit, wenn ich bitten darf!"

1 Kommentar:

  1. Das war es, was Marseille gebraucht hat. Noch sieben Vampire mehr, die durstig die Stadt durchkämmen.

    Aber bemerkenswert bleibt es. Sanghieri hat ein 500 Jahre altes Verbrechen verziehen und stellt den schutz einer schwangeren über seine persönliche Rachefehde.

    Er bringt sogar noch Hilfe mit. Damit sollte es für George doch nun endgültig gelaufen sein. Denn auf ihn werden die Sanghieris auch keineswegs gut zu sprechen sein.

    Schaun wir mal wie das weitergeht. Maurice hat sich ja zuletzt über Langeweile beklagt ;) Aber die dürfte jetzt nicht mehr aufkommen, denke ich.

    Liebe Grüße
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.