Montag, 19. September 2011

Noctambule II: Tote brauchen kein Geld

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Joscelin war nicht lange unterwegs. Sie weckte Anya damit, dass sie leise die Holzlatten verschob und geschickt hinein schlüpfte. Anya setzte sich wieder auf und betrachtete das Mädchen, das mit einem schmuddeligen Stoffbeutel zurückgekehrt war und sich nun eifrig zu ihr hockte.
"Hier! Wasser!" strahlte sie und zog einen Krug aus dem Beutel, der sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte.
Aber er war immerhin dicht mit einem Korken verschlossen und als Anya ihn herauszog roch sie klares, kaltes Wasser. Der erste Schluck tat so gut, dass Anya die Augen schloss und genussvoll stöhnend einen weiteren Schluck nahm. Joscelin beobachtete sie grinsend.

"Gar nicht weit von hier ist ein Brunnen. Den Krug habe ich.. ehm.. naja, der stand so rum." Um Anya nicht ansehen zu müssen, wühlte sie weiter in ihrer Tasche und sah daher nicht, dass die junge Frau schmunzelte, als sie den Krug absetzte und wieder verschloss.
"Soso. Der stand so herum?" Joscelin nickte eifrig und versuchte ein weiteres Ablenkungsmanöver, indem sie ein frisch gebackenes Brot hervor holte. Anya hob staunend eine Braue.
"Das stand hoffentlich nicht einfach so herum?" fragte sie streng. Joscelins Wangen färbten sich rot.
"Hast du eine Ahnung, wie teuer Brot ist?" schnappte sie. Anya seufzte und nahm das Brot, um es auf die Decke zu legen. Das Mädchen zog eine lange Wurst heraus und zwei Äpfel, die sie zu dem Brot legte.
"Joscelin, ich möchte, dass du in Zukunft ehrlich einkaufst. Tu mir diesen Gefallen. Ich besorge uns genug Geld, mach dir deshalb keine Sorgen. Ich möchte auch nicht, dass du dich weiterhin mit den Männern abgibst! Du gehst nicht wieder Nachts auf.. auf.. Kundensuche." erklärte sie fest. Das Mädchen setzte sich zu ihr auf die Decke und runzelte die Stirn. Während sie hungrig ein Stück aus dem Brot brach und abbiss, musterte sie Anya zweifelnd.
"Woher willst du denn das Geld nehmen?" fragte sie mit vollem Mund und stopfte sich sofort noch ein Stück in den Mund. Anya seufzte und lächelte leicht. Da wartete noch ein großes Stück Arbeit auf sie.
"Sobald es dunkel wird, werde ich unterwegs sein. Du wirst dann hier bleiben und unsere Schätze bewachen. Verstanden?" Damit deutete sie auf die Beute von Joscelin. Aber das Mädchen war nicht auf den Kopf gefallen.
"Aha, ich darf nicht stehlen, aber du gehst Leute ausrauben oder wie?" fragte sie aufsässig. Anya blinzelte und lehnte mit einer Handbewegung das Brot ab, das Joscelin ihr anbot.
"Tote brauchen kein Geld." meinte sie nun, nachdem sie den Frontalangriff beschlossen hatte. Joscelin riss die Augen auf und vergaß zu kauen.
"Hä?" Anya legte ihre Hand unter das Kinn des Mädchens und drückte es hoch, bis sie freiwillig den vollen Mund wieder schloss.
"Du hast richtig gehört. Das, was du hier besorgt hast, macht mich nicht satt. Es schmeckt mir zwar nach wie vor, aber ich brauche etwas anderes." versuchte sie zu erklären. Sie konnte dem Mädchen ansehen, wie es in ihrem Köpfchen arbeitete. Nur langsam begann sie wieder zu kauen. Als sie zu reden versuchte, aber der Mund noch nicht leer war, hob Anya mahnend einen Finger und Joscelin kaute brav weiter, bis sie alles hinunter geschluckt hatte. Da Anya geduldig wartete, begann sie dann ruhig zu reden.
"Wie jetzt? Wie willst du satt werden, wenn du Leute tötest und ausraubst, he? Brauchst du was Warmes zu essen? Oder mehr Obst? Oder Fleisch?" Sie legte fragenden Blickes den Kopf schief und setzte eine altkluge Miene auf.
"Nichts von alledem. Ich brauche ihr Blut." erklärte Anya ruhig, doch innerlich war sie angespannt. Wenn die Kleine nun in hysterische Schreie ausbrach, würde sie einschreiten müssen.

Joscelin schrie nicht. Sie reagierte überhaupt nicht. Die Hand mit einem neuen Stück Brot schwebte in halber Höhe, ihr Mund war offen und sie gaffte Anya verständnislos an.
"Was denkst du, warum George dich gebissen hat?" hakte Anya nach und konnte beobachten, wie die Farbe aus dem Gesicht des Mädchens wich. Die Hand mit dem Brot sank wieder herunter.
"Der wollte mich.. der.. mein.. Blut?" jappste sie schließlich entgeistert. Als Anya nickte, sprang Joscelin auf. Sie stieß den Krug um, als sie rückwärts tappte und ihre Hand tastete an der Holzwand entlang, um nach den losen Brettern zu tasten. Anya blieb ruhig sitzen. Wenn es sein musste, würde sie schnell genug sein.
"Beruhige dich wieder. Ich sagte doch, ich will dir nichts tun! George ist ein skrupelloser Kerl! Auch wir haben unsere Gesetze und die schützen euch Kinder. Außerdem mag ich dich." erklärte sie ruhig. Joscelin hatte den geheimen Ausgang gefunden und blieb stehen. Ihre Augen waren voller Zweifel. Ihr Zögern machte Anya Mut. Ohne sich zu rühren sah sie das Mädchen weiter an.
"Ich war auch einmal ein Mensch. In deinem Alter war ich Magd in einem herrschaftlichen Haus. Später wurde ich Zofe." erzählte sie leise.
"Ehrlich?" piepste Joscelin unsicher. Anya nickte und lehnte sich entspannt zurück. Jetzt war sie sich ihrer Sache sicher.
"Komm her und iss weiter, dann erzähl ich es dir." Sie klopfte einladend auf die Decke und griff nach dem Krug, um einen Schluck zu trinken. Joscelin ahnte nicht, wie aufmerksam Anya ihre Sinne auf sie gerichtet hatte. Aber sie entspannte sich merklich. Noch immer unsicher kam sie zurück zu der Decke und ging langsam in die Hocke.
In ihr arbeitete es. Das beste Argument war immer noch, dass Anya ihr bisher kein Leid zugefügt, sondern ihr geholfen hatte. In Joscelins Leben hatte es bisher keine sanften Zärtlichkeiten gegeben. Von ihrer Mutter hagelte es Prügel, wenn sie betrunken war und die Freier achteten nur auf ihr eigenes Vergnügen. Anya war der erste Mensch, der auf sie achtete und freundlich war. Und ausgerechnet die war nun doch kein Mensch.

Als Joscelin sich endlich setzte und erneut nach dem Brot griff, lächelte Anya und entspannte sich völlig. Während das Mädchen aß, erzählte sie von ihrem Leben und schließlich von Armand. Joscelin unterbrach immer wieder mit Fragen und wollte mehr wissen. Schließlich lag sie wieder in Anyas Arm und lauschte hingerissen der Liebesgeschichte, während ihrer Augen schwerer wurden.

1 Kommentar:

  1. Endlich hat Anya mal jemand eingeweiht. Und zwar über die volle Distanz - Nicht so, wie mit Miriam, die ja nichts vom Vampirdasein wusste.

    Ich bin ja gespannt, wie sich das mit den beiden noch entwickelt.

    Interessant finde ich übrigens einmal mehr die Doppelmoral. Anya darf töten, und den Toten ihr Geld nehmen, aber Joscelin soll nicht einmal einen alten Krug am Brunen klauen.

    Achja :D Vampir sein stellt einen immer wieder vor schwierige moralische Herausforderungen.

    Liebe Grüße
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.